Vom Verlust demokratischen Anstands in CDU und FDP

Viel und zurecht ist mit Blick auf das Thüringer Landesparlament von „Tabubruch“, von „politischem Dammbruch“ die Rede. Doch es geschah nicht plötzlich, die Parteizentralen von CDU und FDP haben es dazu kommen lassen.

AfD, CDU und FDP in Thüringen vereinte bereits nach den Landtagswahlen Ende Oktober 2019 von Beginn an ein Ziel: Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten abzuwählen – obwohl er, eindrucksvoller als die Kollegen Kretschmer und Woidke in Sachsen und Brandenburg von den Wöhlerinnen und Wählern Rückhalt erhalten hatte.

Dieses Ziel haben sie erreicht. Besser: Die AfD hat es erreicht und CDU und FDP haben mitgeholfen. Sie haben keinem AfD-Abgeordneten ins Amt gewählt, aber sich als bedenkenlos und willfährige Kammerdiener der AfD-Strategie gezeigt. Glaubte ernsthaft jemand, die AfD würde im dritten Wahlgang ihrem „eigenen Kandidaten“ treu bleiben und sich die historische Chance entgehen lassen? Nicht erst das Ergebnis, allein es darauf ankommen zu lassen, zeugt wie gr0ß der Graben zwischen bürgerlicher, demokratischer Anstandigkeit und den »bürgerlichen« Parteien geworden ist.

Der von der Hälfte der Thüringer Abgeordneten zzm Ministerpräsidenten gewählte FDP-Fraktionsvorsitzende Thomas Kemmerich war frei, die Wahl nicht anzunehmen. Er hätte ein Amt, in das er nur mit Stimmen der völkisch-nationalisistischen, in Teilen faschistischen AfD-Abgeordneten gewählt wurde, mit genau dieser Begründung ablehnen können: „Ich hätte gerne eine Mehrheit gehabt, aber nicht diese“. Dann wäre er zwar nicht Ministerpräsident geworden. Im vorgeblichen Ringen um eine „bürgerliche“ Mehrheit aus CDU, SPD, FDP und Grünen, die mit 39 von 90 Abgeordneten weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt ist, hätte er zumindest Glaubwürdigkeit reklamieren können. Nun aber ist jede Zusammenarbeit mit einem Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD für demokratische Parteien nicht mehr möglich. Dadurch würde der demokratiepolitische Sündenfall nur nachträglich legitimiert. Zwar wurden die Regeln des Parlaments formal eingehalten, doch galt bisher immer: man lässt sich von Leuten, die wesentliche Elemte des demokratischen Zusammenlebens in Wort und Tat missachten, nicht zur Macht verhelfen.

Die Kandidatur Kemmerichs erfolgte ohne Regierungsprogramm, ohne Regierungsmannschaft, ohne eine politische Mehrheit im Hintergrund. Es ging rein um die Eroberung des Amtes des Ministerpräsidenten, um die politische Macht. Wäre es um das Signal gegangen, lieber einen eigenen Kandidaten zu wählen als den gar so linksradikalen Bodo Ramelow, wäre eine Kandidatur im ersten und zweiten Wahlgang geeignet gewesen. Dem Willen der Wählerinnen und Wähler wie der politischen Gemengelage im Parlament hätte dann eher entsprochen, sich im dritten Wahlgang zu enthalten: Weder gegen Bodo Ramelow zu stimmen noch die Gefahr einzugehen, einen der ihren von Abgeordneten ins Amt hieven zu lassen, mit denen man angeblich politisch keine gemeinsame Sache machen will. Spätestens bei den Verhandlungen über den Haushalt 2021 hätte sich erweisen müssen, ob die rotrotgrüne Minderheitsregierung eine Mehrheit für einen neuen Haushalt ohne die AfD bekommen hätte. Nun muss ein FDP-Ministerpräsident ohne Mehrheit im Parlament einen Haushalt exekutieren, der noch von der Ramelow-Regierung beschlossen worden war …

CDU und FDP sind sehenden Auges der Strategie der AfD gefolgt. Man muss sogar um beider Parteien willen annehmen, dass es so war. Der andere Fall wäre schlimmer noch weil Ausdruck politischer Unzurechnungsfähigkeit: nicht durchschaut zu haben, worauf die AfD mit ihrem eigenen Kandidaten als politischem Lockvogel hinaus will. Nehmen wir also um beider Parteien willen an, sie haben in Kauf genommen, nur mit Hilfe der AfD den amtierenden Ministerpräsidenten abwählen, d.h. jemanden anderen ins Amt wählen zu können ohne anschließend tatsächlich eine politische Zusammenarbeit mit der AfD einzugehen, dann liefe das ganze auf ein Manöver hinaus, um das zu erreichen, wovon jetzt allseits geredet wird: Neuwahlen.

An dieser Stelle kommen die Bundesparteien FDP und CDU ins Spiel. Angeblich handelten die Partei-freundinnen und Parteifreunde in Erfurt gegen ihren Rat, ja gegen ihren Willen. Oder sie wachsen ihre Hände in Unschuld: Man könne ja nichts dagegen machen, wenn man in geheimer Wahl von Leuten gewählt wird, mit denen man nicht zusammenarbeiten wolle. Doch man kann: Man kann sich gar nicht erst in diese Situation begeben, da man weiß, dass man ohne die Stimmen dieser Leute keine Aussicht auf eine Mehrheit hätte. Christian Lindner also: Er hat zugelassen, dass sich die FDP in die Abhängigkeit von der AfD und ihrem Faschisten Höcke begibt. Oder aber: Er hat eine demokratische Haltung nicht durchsetzen können oder wollen. Die Spielchen der FDP hätten den machtpolitischen Sandkasten Thüringens allerdings nie verlassen können ohne die aktive Unterstützung durch die CDU. Einerseits die Linie zu fahren, AfD und Linke seien gleichermaßen demokratiefeindlich, andererseits aber der Landespartei keinen positiven Vorschlag zu machen, wie in der politischen Gemengelage zu handeln sei, erfüllt natürlich auch den Tatbestand der politischen Beihilfe für die AfD. Es handelt sich eben nicht um einen Thüringer Vorgang, sondern um ein bundespolitisches Politikum. Seit dem 5.2. wissen wir, dass allen Beteuerungen zum Trotz der CDU und der FDP, wenn es in Fragen der politischen Macht um alles geht, die AfD willkommen ist, ja mehr noch: dass sie dann möglicherweise der AfD politisch auf den Leim gehen würden. Für die CDU gilt bis auf weiteres: Jenseits aller Beschlusslagen und Beschwörungen ihres Präsidiums macht sie lieber gemeinsame Sache mit der antidemokratischen AfD als mit der demokratischen Linken. Kramp-Karrenbauer haben es entwder sehenden Auges zugelassen oder ihre jeweiligen Parteiladen nicht mehr unter Kontrolle.

Wie sollen, fragt man sich, Thüringerinnen und Thüringer, die mit aus ihrer Sicht guten Gründen weder Linke noch SPD noch Grüne wählen können und die AfD von der Mach fernhalten wollen, sich noch für CDU oder FDP entscheiden können?

Statt nach Neuwahlen zu rufen und die Wählerinnen und Wähler mit einem Problem zu belästigen, welches sich die Fraktionen im Parlament selbst eingebrockt haben, sollte der gerade gewählte Ministerpräsident zurücktreten und das Landesparlament erneut einen Ministerpräsidenten wählen, jedoch dieses Mal mit einer parlamentarischen Mehrheit, die ohne die Stimmen der AfD zustande kommt. Und nur dann, wenn FDP und CDU zu dieser politischen Korrektur fähig sind, nur dann machen irgendwann vorgezogene Neuwahlen sind. Andernfalls wären noch Neuwahlen ein politischer Erfolg der AfD. Sie würden nur stattfinden, weil CDU und FDP mit der AfD zusammengearbeitet haben ohne das klar wäre, dass dies nach den Wahlen auf keinen Fall wieder geschehen würde.

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»Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand«?

„Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand“ zu fördern, zählte zu den Grundversprechen der bundesrepublikanischen „sozialen Marktwirtschaft“. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und der sozialen Kämpfe in der Weimarer Republik, aber auch des Aufbaus eines sozialistischen Gegenmodells in der DDR, wurden Fragen der Demokratisierung der Wirtschaft und die damit verbundenen Fragen nach der Verteilung von Eigentum und Macht bis in die 1970er Jahre hinein breit und parteiübergreifend diskutiert. In den folgenden Jahren, insbesondere seit den 1990ern, ging es eher darum, aus Lohnabhängigen auch Geldanleger zu machen, die auf Renditen und Zinserträge schauen. Vergessen wurde darüber, dass es nicht nur der SPD, sondern auch Sozialliberalen und manchem Konservativen in der frühen Bundesrepublik immer auch um die Beteiligung am Produktivvermögen der Gesellschaft, um einen Beitrag zur Demokratisierung ging. Daran einerseits zu erinnern und andererseits zu erwägen, wie weit der Standpunkt des Geldanlegers auch unter Lohnabhängigen verbreitet sein könnte, ist Anliegen des Arbeitsmaterials „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand:

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Aufstieg der Rechtsradikalen, Schwäche der Linken und die Kultur der „arbeitenden Klassen“

Ein Beitrag für die Zeitschrift „Sozialismus“ zu den politischen Verwerfungen der Landtagswahlen im Herbst 2019, Erklärungen für die Wahlerfolge der AfD und zur politischen Lage. Und die schriftliche Fassung eines Vortrages zum gleichen Thema auf dem „Berliner Seminar“ von RLS und Transform! am 27.11.2019 „Sozialer Wandel und politische Repräsentation“.

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Der AfD-Wahlerfolg in Brandenburg. Soziale Merkmale und Erklärungsfaktoren

Eine Nachlese zur Wahl vom 1.9.2019 von Thomas Falkner und Horst Kahrs

In unserer kleinen Studie zu sozialen Merkmalen und Erklärungen des AfD-Wahlerfolges tragen wir Erkenntnisse über die Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft, regionale Besonderheiten, sozialen Wandel und historische Linien zusammen und fragen zudem, inwieweit auch die Schwäche anderer Parteien den AfD-Wahlerfolg ermöglichte:

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Die Wahl zum 7. Thüringer Landtag am 27.10.2019 – Wahlnachtbericht

Die rotrotgrüne Landesregierung hat ihre Mehrheit verloren. DIE LINKE wurde mit 31% zur stärksten Partei im Land gewählt, damit ihr Bodo Ramelow weiterhin Ministerpräsident bleibt. Doch steht ihm eine schwierige Regierungsbildung bevor, an deren Ende eine Konstellation stehen wird, die es so oder so noch nicht gegeben hat.

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Die Wahl zum 7. Landtag Brandenburg und 7. Sächsischen Landtag am 1.9.2019

Eines vorweg: Wahlen sollten nicht an historischen Tagen wie dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen abgehalten werden. Bei solcher Geschichtsvergessenheit muss man sich eigentlich nicht wundern, wenn eine völkisch-nationale, autoritäre und rechtsextrem durchwirkte Partei wieder Wahlen gewinnt …

Also in den beiden Ländern wurde ein neuer Landtag gewählt und immerhin ist die AfD nicht zur »stärksten Partei« geworden. Hier kann man wieder meinen Wahlnachtbericht herunterladen, der dieses Mal – Achtung! – drei Anhangs-Dateien hat. Gute Erkenntnisgewinne beim Lesen!

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Ein neuer Zyklus parlamentarischer Politik in Deutschland

Am kommenden Wahlabend mündet eine fünfjährige politische Übergangsperiode in einen neuen politischen Zyklus. Vor fünf Jahren zog die »Alternative für Deutschland« (AfD) erstmals in zwei Länderparlamente ein. Der Zufall der Wahltermine wollte, dass es sich um Brandenburg und Sachsen handelte und nicht um Baden-Württemberg und Hessen. Bis Oktober 2018 wurde diese Partei in der Regel mit deutlich zweistelligen Ergebnissen in alle weiteren vierzehn Landesparlamente und zur drittstärksten Fraktion im Deutschen Bundestag gewählt. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zeigte sich, dass die AfD ihr bisheriges Wählerpotential nahezu ausgeschöpft hat. Mit dem Wiedereinzug in die Landesparlamente von Brandenburg und Sachsen beginnt nun ein neuer politischer Zyklus. War der vorherige Zyklus geprägt vom Erstaunen der Anderen über das Erstarken einer Partei rechts von der Union, trotz oder wegen ihrer verschiedenen Häutungen in Richtung einer antidemokratischen, autoritär-völkischen Partei, und dem Rätseln darüber, wie ihre Wähler gleichwohl am besten zurückgewonnen werden könnten, so wird der nächste Zyklus von der Erkenntnis geprägt sein, dass die parlamentarische Existenz dieser Partei von Dauer sein wird und es eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in dieser Gesellschaft gibt, die die politischen Positionen und den Stil dieser Partei gut heißen, teilen und nicht nur billigend in Kauf nehmen. Wie lässt sich dieser neue politische Zyklus charakterisieren? Einige Vorschläge hier:

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Sozialdemokratischer Sinkflug unaufhaltsam?

Information zu einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung

Im Juni stellte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine in ihrem Auftrag erstellte empirische Studie vor, die sich mit dem Niedergang sozialdemokratischer Parteien in neuen europäischen Staaten befasste. Zu erfassen versucht wurde, inwieweit die Parteien noch ihrem Anspruch gerecht wurden, sich als Mitte-Links-Parteien und »Schutzmacht der kleinen Leute« zu profilieren. Das Ergebnis fiel für einige Länder, so die deutsche Sozialdemokratie durchaus niederschmetternd aus. Die Gründe für das Schrumpfen des Wählerpotentials bestehen danach in einer gewachsenen Kluft zwischen den sozial-, gesellschafts- und kulturkonservativen Erwartungen eines Teils früherer sozialdemokratischer Wählerschaften und dem wahrgenommenen Einsatz der Sozialdemokratie für Themen undGrundsätze, die diesen Schichten besonders wichtig sind. Besonders die Kluft zwischen den persönlich wichtigen Normen und Grundsätzen und der wahrgenommenen Bedeutung, die sie in der Politik der Sozialdemokratie haben, spielt für die Tiefe des Vertrauensverlustes eine Rolle. Diese Differenz ist so beschaffen, dass sie von einer Partei links von der Sozialdemokratie schwerlich zu füllen sein wird. Über die für diese Behauptung wichtigen Aspekte der Studie wird nachfolgend informiert: http://www.horstkahrs.de/2019-07-06-ka-info-mitte-links-fes-studie/

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Wahl zum Europäischen Parlament in Deutschland am 26. Mai 2019

Die Stimmen sind auch in den letzten Stimmbezirken Bremens ausgezählt, mein Wahlnachtbericht konnte fertiggestellt werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben das deutsche Parteienssystem erneut umgekrempelt. Die Grünen kommen erstmals bundesweit über 20%, die SPD landet weit darunter und die Union unter 30%. Die Linke erstmals seit 2005 wieder mit einer 5 vorne. Der Höhenflug der AfD scheint erstmals gestoppt zu sein, auch wenn sie in Brandenburg und Sachsen zur stärksten Partei wurde.

Mein Wahlnachtbericht:

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»Europa« im Zangengriff einer Polarisierung? Wie die komplexen europäischen Verhältnisse einfach erklärt werden, damit sich wenig ändert

Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 gelten in weiten Teilen der deutschen politischen Öffentlichkeit als europäische »Schicksalswahl«. Befürchtet wird ein starker Stimmenzuwachs für EU- und Euro-skeptische Parteien im rechten, nationalistischen Parteispektrum und, vor allem, eine neue Qualität in der politischen Fähigkeit dieser Parteien zur Fraktionsbildung im Europäischen Parlament, also zur politischen Formierung. Dagegen wird ein Bekenntnis zu »Europa« mobilisiert, doch dieser Mobilisierung fehlt weitgehend ein entscheidendes Moment: Was müsste sich (an der deutschen Politik) ändern, damit der mehrheitliche Wunsch nach engeren Kooperation in der EU Wirklichkeit werden kann?

Stattdessen wird vielfach eine Polarisierung behauptet, in der sich »Skeptiker« und »Befürworter«, im weiteren dann »Ängstliche« und »Zuversichtliche«, »Verlierer« und »Gewinner« gegenüberstehen, denen dann wieder politische Aspirationen zugewiesen werden: die einen wollen zurück in eine bessere Vergangenheit, die anderen wollen weiter die Welle des Erfolgs in eine bessere Zukunft reiten. Diese Erklärungen bestätigen vor allem eines: ein ökonomistisches Weltbild, in dem es nur um Gewinnen und Verlieren, um Konkurrenz statt Kooperation geht.

Empirische Studien (nicht nur) aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung sollen diese dichotomen Spaltungen als europaweit gültig und das Wahlverhalten leitend belegen. Tatsächlich gelingt das nicht. Vielmehr zeigt sich die Armut empirischer Sozialwissenschaft, die graduelle metrische Unterschiede in qualitative Polarisierungen verwandelt.

Der Blick auf die zugänglichen empirischen Daten offenbart oftmals größere Unterschiede zwischen den Befragten einzelner Länder als entlang der behaupteten Polarisierungen. Auch finden sich die Polarisierungen in den Anhängerschaften aller Parteien wieder und mehrheitlich nur mit graduellen Unterschieden. Nur in wenigen Ländern wie Frankreich ist eine große Übereinstimmung zwischen der Zuordnung zu einem Pol und der Parteiaffinität feststellbar.

Schließlich müssen die Studien selbst zugestehen, dass etwa die Skepsis gegenüber dem Zustand der EU oder der Lage im eigenen Land unterschiedliche politische Auswege kennt. Das Lager der »Besorgten« teilt sich selbst wieder in diejenigen, die mehr sozialen Schutz durch eine stärkere EU wollen, und diejenigen, die auf eine Stärkung des Nationalstaates setzen. Für politische Alternativen zur vorherrschenden Politik wäre dies womöglich der weitaus interessantere Befund.

Die Studien der Bertelsmann-Stiftung wie auch die Befundes des Eurobarometers legen vor allem nahe, sich für einfachen und dichotomischen Erklärungsmustern zu hüten. Tatsächlich lassen sich in der europäischen Vielfalt eher unterschiedliche Gruppen von Ländern ausmachen, in denen sich ein ähnlicher Blick auf die EU herausgebildet hat. Es verbietet sich daher auch deshalb, das Wahlverhalten in den europäischen Staaten bei der Wahl zum europäischen Parlament nach einem einheitlichen Muster erklären zu wollen.

Die Erklärungen aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung tragen den Charakter einer Gegenmobilisierung. Gegen die von Rechten mobilisierte Angst vor »Brüssel« wird die Angst um die liberal-demokratische Zukunft Europas gesetzt: »Europa« ist von außen bedroht durch Protektionismus und die amerikanische Außenpolitik, von innen durch »die Populisten«. 

Mehr hier:

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Die Europäische Union und ihre Linksparteien vor der Wahl

Auf der Web-Seite des linken Netzwerkes Transform!Europe finden sich in englischer Sprache eine Reihe interessanter Länderbericht zur politischen Situation für den Wahlen zum Europäischen Parlament:

https://www.transform-network.net/focus/overview/ep-2019-the-european-left-one-mouth-many-voices/

Der Beitrag zu Deutschland erscheint dort in diesen Tagen.

Kein »Rückfall in Nationalismus« – ohne klar europäische Themen und Projekte?

Die Wahl zum Europäischen Parlament 2019 findet in Deutschland am 26. Mai zeitgleich mit der Wahl zum Landesparlament im Stadtstaat Bremen und mit Kommunalwahlen in zehn Bundesländern statt. Bereits 2014 hatte die Zusammenlegung der Wahltermine von EP-Wahl und Kommunalwahl in fünf Ländern dort eine positive Wirkung auf die Wahlbeteiligung. Allein deshalb kann erneut mit einer höheren Wahlbeteiligung gerechnet werden. Gleichzeitig stößt die EP-Wahl selbst bisher auf ein größeres Interesse als diejenige 2014. Die Ursachen hierfür betreffen vor allem (I.) die Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem seit 2014 und (II.) die allgemeine Stimmungslage in der wahlberechtigten Bevölkerung, die auch von der Sorge vor einen »Rückfall in Nationalismus« getragen ist. Fraglich indes ist, ob und wie die Parteien daraus in ihren Wahlkampfstrategien Nutzen ziehen wollen (III.).
Der vollständige Beitrag, erstellt Anfang April, hier:

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Transformation und Erosion – Parteiensysteme im Umbruch

Das sind die Themen der aktuellen März-Ausgabe der Zeitschrift „Z“. Im Editorial heißt es: »Die Welt scheint aus den Fugen. In fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern – den USA ebenso wie jenen der EU – zeigen sich ausgeprägte Erosionserscheinungen der traditionellen politischen Systeme. Soziale Desintegrationsprozesse spitzen sich zu, vormals stabile Parteien und Parteiensysteme lösen sich auf, autoritär-nationale Demagogie hat Zulauf. Der Kontrollverlust der politischen und ökonomischen „Eliten“ ist mit Händen zu greifen. „Neue Unsicherheit“ greift um sich. Die Krise der politischen Parteien und der Politik stehen im Mittelpunkt dieser Ausgabe.«

Das vollständige Editorial sowie mein Beitrag »Transformationen des Parteisystems und der autoritäre Nationalismus« hier:

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