Nach den Landtagswahlen bleibt alles anders

Der Wandel der deutschen Parteienlandschaft nimmt nach den jüngsten Landtagswahlen an Geschwindigkeit zu. Die Union trägt einen Richtungsentscheid auf offener Bühne aus, die Sozialdemokratie hat die Rettungsleine immer noch nicht gefunden, die Grünen finden sich unversehens in der Rolle des Gegenpols zur AfD von den Wählerinnen und Wählern geschätzt. Einige Vorschläge, wie das alles zu deuten sein könnte, mache ich hier: Anmerkungen zur politischen Lage.

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Schwarz-Grün knapp bestätigt trotz historischem Einbruch bei CDU – Grüne neue Partei der Mitte?

Der 18. Hessische Landtag ist gewählt, der Ausgang war knapp: Schwarz-grün bekommt 69 von 137 Sitzen, die Grünen liegen vorläufig mit nicht einmal 100 Stimmen Vorsprung auf die SPD auf Platz zwei, die AfD sitzt nun in allen Landtagen und die Linkspartei dümpelt vor sich hin. Hier der vollständige Wahlnachtbericht:
2018-10-29 Ka LTW18 HE WNB

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Wahl zum 18. Bayerischen Landtag am 14.10.2018 – Wahlnachtbericht und erster Kommentar

Die Bayerinnen und Bayern haben sich einen neuen Landtag gewählt, mit der höchsten Wahlbeteiligung seit 1986, dem schlechtesten Ergebnis für die CSU seit 1954, dem historisch allerschlechtesten für die SPD und vielem mehr – hier in einer um einige Zahlen ergänzten Fassung nachzulesen: 2018-10-14 LTW BY WNB

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»Arbeiter«: Von der Mehrheit zur Minderheit

Für 2017 weist die amtliche Statistik nicht einmal mehr 18% der Erwerbstätigen als »Arbeiter« oder »Arbeiterin« aus. Ältere Jahrgänge erinnern noch andere Zeiten, in denen nahezu die Hälfte aller Erwerbstätigen in der sozialen Position »Arbeiter« geführt wurde und damit in der dominanten, den gesellschaftlichen Alltag und die »normalen« Lebenseinstellungen prägenden Status-Gruppe. Arbeiter und Arbeiterin war, wer überwiegend körperliche Arbeit verrichtete, im Blaumann statt mit weißem Kragen zur Arbeit ging, die dann auf jeden Fall nicht im Büro verrichtet wurde, und wer dafür meist wöchentlich eine Lohntüte erhielt.

Vom Arbeiter zum Angestellten, das war für viele ein erstrebenswertes soziales Aufstiegsziel. Nun scheint sich die »soziale Flugbahn« des Arbeiters in den entwickeltsten Ländern entscheidend zu senken. Wenn immer weniger die typischen Merkmale des »Arbeiters« aufweisen und sich als solchen im Gegensatz zu anderen Statusgruppen betrachten, welchen Sinn macht es dann noch, in Politik, Wahlforschung und Klassenanalyse vom »Arbeiter« zu reden – wenn damit nicht eine rein analytische Kategorie gemeint ist? Eine kleine Datensammlung zum Thema hier

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Das Vermögen der »kleinen Leute«

Die ungleiche Verteilung des Vermögens in der deutschen Gesellschaft wurde vielfach berichtet. Lässt man sozialstaatlich garantierte eigentumsähnliche Ansprüche (z.B. Rentenansprüche) außen vor, zählt sie zu den größten Ungleichheiten in den OECD-Staaten. Doch kommt es nur auf die Größe des Vermögens an, wenn man die Bedeutung von Geld- und Immobilienbesitz für die Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage erfassen will? Oder stürzt nicht z.B. auch schon kleiner Aktienbesitz, der einen hohen Stellenwert in der eigenen Alterssicherungsstrategie besitzt, in den Zwiespalt, zwischen den ja keineswegs identischen Interessen von »shareholder« und »stakeholder« entscheiden zu müssen? Wie verbreitet ist eigentlich der Vermögensbesitz unter Arbeitern sowie einfachen und mittleren Angestellten? Daten dazu hier: 2018-08-16 Ka Vermögensverhältnisse Arbeiter-Angestellte

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Mehr als politisches »Affentheater« in der Abenddämmerung zweier Polit-Karrieren

Acht Anmerkungen zur jüngsten Regierungskrise, Ereignisstand am 4.7.2018 11:59

Erstens. Die offene Regierungskrise scheint zunächst durch eine gemeinsame Absichtserklärung der Bundeskanzlerin und des Bundesinnenministers abgewendet. Den unmittelbaren politischen Schaden luden die CDU-Vorsitzende und der CSU-Vorsitzende beim gemeinsame Koalitionspartner ab. Die SPD muss erneut mit sich ringen, ob sie einem politischen Vorhaben, welches sie erstens bereits einmal ablehnte und welches zweitens durch den Koalitionsvertrag nicht gedeckt ist, zustimmt, in welcher konkreten Ausgestaltung und unter welchen Bedingungen. Was auch immer dabei herauskommen wird, bleiben wird was auf offener Bühne zu sehen war. Ein unberechenbarer Bundesinnenminister, der sich, jeglichen bürgerlichen Anstand fahren lassend, über »seine« Kanzlerin ungestraft lustig machen darf; eine Bundeskanzlerin, die nicht mehr die politische Kraft besitzt, ihren offen meuternden Innenminister umgehend zu entlassen, wie es jeder Vorgesetzte mit einem Mitarbeiter machen würde; ein Koalitionspartner, der dem dreiwöchigen Treiben brav zuschaut, nun aber sich daran messen lassen muss, warum eigene Vorhaben und Ziele nicht ähnlich rücksichtslos durchgefochten werden wie Seehofer es vorgemacht hat. Mit anderen Worten, die Regierungskoalition ist mit dem Vorhaben, das »Vertrauen der Bürger« durch »Sachpolitik« zurückgewinnen zu wollen, grandios gescheitert. Vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Bearbeitung der wirklich großen Probleme wie Investitionen in die Infrastruktur, Wohnen, Pflege, Bildung, Integration von Deutschen wie Nichtdeutschen – wird es in dieser Bundesregierung mit diesem Personal nicht mehr geben. Es herrscht lediglich brüchiger Waffenstillstand, spätestens nach den Herbstwahlen in Bayern und Hessen geht der Vorhang wieder auf.

Zweitens. Die AfD dominiert tatsächlich die deutsche Politik. Der Koalitionsvertrag lässt sich auch lesen als Kompromiss zwischen drei unterschiedlichen Strategien, mit denen auf den AfD-Wahlerfolg reagiert wird: die SPD will soziale Themen stark machen in der Hoffnung, damit die »Verlierer der Globalisierung«, die zur AfD gewandert seien, zurückzugewinnen; die CDU setzt auf Helmut Kohls Europa-Strategie und »notwendige« wirtschaftskonforme Anpassungen und Modernisierungen im Rahmen eines liberalen Konservatismus, um durch den Glanz der erzielten Erfolge die Rebellion der Wert- und Nationalkonserativen einfangen zu können; die CSU schließlich setzt auf die nationale Karte und die Rolle einer AfD ohne »Vogelschiss«, hat aber eigentlich den Zeitpunkt verpasst, sich als gesamtdeutsche Partei zu etablieren, als die sie in den Koalitionsverhandlungen bereits wahrgenommen wurde. Zwischen diesen drei Strategien war ein Zusammenstoß, unabhängig von persönlichen Feindschaften und alten Rechnungen, letztlich unausweichlich.

Drittens. Im Prolog kündigte der Bundesinnenminister die öffentliche Verkündung eines »Masterplans« zum Schutz der Heimat vor »ungeregelten« Migranten an, den auch in der Regierung kaum jemand kannte, der Teile des Koalitionsvertrages hinterging und dessen Verkündung, zumal wenige Tage vor einem EU-Gipfel, von der Kanzlerin blockiert wurde. Damit hatte Seehofer, was er wollte: eine Neuauflage seines seit 2015 bestehenden Konflikts mit der Kanzlerin, die dieses Mal den entscheidenden Erfolg bringen sollte: das offene, für alle sichtbare Eingeständnis der Kanzlerin, dass ihre Flüchtlingspolitik vom Spätsommer und Frühherbst 2015 gescheitert sei; oder wie die CSU es seit der Einigung nennt: die »Asylwende«. Mit diesem symbolischen Erfolg glaubten Söder, Dobrindt und Seehofer, den bayrischen Wählerinnen und Wählern signalisieren zu können, dass sie nicht nur von Anfang an in der Flüchtlingsfrage dachten wie die AfD, sondern dass sie ihre Position auch durchsetzen können – Botschaft: Wer AfD-Politik ohne neonazistische Streifen will, muss CSU wählen. Sollte das nicht im erwarteten Ausmaß der Fall sein, muss einer der drei Herren die politische Verantwortung übernehmen, wobei zwei sich einig sind, wer das sein wird.

Viertens. Vordergründig wurde um die Frage gestritten, wie mit Migranten zu verfahren sei, die an der (bayrischen) Grenze zu Österreich kontrolliert werden, deren Daten aber bereits in einem anderen EU-Land erfasst wurden, weshalb gemäß des europäischen Regelwerks (»Dublin«) dieses Land für das Asylverfahren zuständig sein soll. Dies traf in 2018 bis Mitte Juni auf gut 18.000 Personen zu, darunter nicht einmal die Hälfte, deren Antrag bereits in einem anderen EU-Land abgelehnt wurde und die nun einen erneuten Asyl-Antrag in Deutschland stellen wollen. Während erstere Gruppe bereits heute abgewiesen wird bzw. werden kann ist es bei der zweiten Gruppe rechtsstaatlich nicht so einfach. Denn es gibt für sie kein »zuständiges« EU-Land mehr. Seehofer will sie erst gar nicht auf das Territorium des »deutschen Rechtsstaat« lassen. Warum taugt der Umgang mit ein paar tausend Menschen dazu, ein paar Politikerinnen und Politiker in eine auch persönlich geführte Auseinandersetzung zu treiben, die erst kurz vor dem Zerfall der Regierung endet, nicht aber etwa das Schicksal von über einer Million Obdachloser im Land, wohnungssuchenden Familien, in Armut aufwachsenden Kindern? Die Antwort kann nur lauten: es geht nicht um die asylsuchenden Menschen, sondern um eine politische Richtungsfrage, nicht nur in Sachen »Verteidigung der Wohlstands-Festung Europa« auf Kosten aller oft beschworenen »europäischen Werte«.

Fünftens. Im Sommer und Herbst 2015 hat Angela Merkel, entgegen vieler Darstellungen, die Grenzen nicht geöffnet, denn die deutsch-österreichische Grenze war offen, sie hat unterlassen, die Grenzen zu schließen, weil sie keine Kettenreaktion auslösen wollte, an deren Ende statt des Schengen-Raums wieder nationale Grenzkontrollen stehen. Merkel wollte die Voraussetzungen für eine »europäische Lösung« aufrechterhalten. Begründet hat sie dies auch mit christlicher Pflicht zur »Nothilfe«, was ihr viel Zuspruch über die Parteigrenzen hinweg einbrachte. Seehofer stand bereits damals für eine Schließung der Grenzen nach dem Vorbild Orbans in Ungarn und begründete dies mit der Einhaltung von Recht und Ordnung statt der Merkel’schen »Herrschaft des Unrechts«. Der politische Kern des Konflikts zwischen beiden bestand weniger im Ziel: die Migration nach Europa zu regulieren und einzudämmen; sondern im Weg, wie man am besten dahin käme: auf dem Weg der Re-Nationalisierung oder der »Vertiefung der europäischen Integration« durch gemeinsam Flüchtlingsabwehr. Symbolisch stehen dafür die guten »außenpolitischen« Beziehungen der bayerischen Landesregierung zu Victor Orban und Sebastian Kurz einerseits und diejenigen von Merkel zu Macron andererseits. Seehofer agierte auf der Grundlage, dass die verabredete Verteilung von Flüchtlingen in andere EU-Staaten von nationalistischen Regierungen offen abgelehnt wurde und setzte darauf, dass sich die Renationalisierung der EU ausweiten würde, während Merkel, dem »Geist der Partnerschaft in der Europäischen Union« im Sinne Helmut Kohls verpflichtet, weiter auf gemeinsame und am Ende verpflichtende europäische Schritte setzte. Möglicherweise hat ihre Bereitschaft, sich auf Reformvorschläge von Macron einzulassen, insbesondere solche, die die finanziellen Angelegenheiten zwischen den EU-Staaten und ihren Institutionen in Richtung »Solidargemeinschaft« neu regeln würden, den Ausschlag gegeben, die Entscheidung jetzt und an der Flüchtlingsfrage zu suchen. Denn bei aller persönlichen Feindschaft zwischen den beiden Personen stehen sie auch für unterschiedliche politische Konzeptionen, die jeweils Unterstützer und Unterstützerinnen in beiden Parteien haben. Die offensichtliche innenpolitische Erpressbarkeit der Kanzlerin, die sich von einem ihrer Minister Ultimaten stellen lässt, hat dazu beigetragen, die Rolle und Position nationalistischer Regierungen in der EU zu stärken.

Sechstens. Berthold Kohler, Mitherausgeber der Zeitung, in der sich das Bürgertum politisch verständigt, bemerkte jetzt, dass der Streit nur vordergründig um eine Frage ging, »die sich allenfalls wie eine Randnotiz ausnimmt im großen Drama der neuen Völkerwanderung, die den Sehnsuchtskontinent unzähliger Migranten politisch erschüttert und verändert wie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nichts mehr«. Die Neukonstitution Europas bzw. der EU – wobei Neu-Konstitution Austritte einschließt – steht auf der politischen Agenda. Allerdings nicht nur wegen der globalen Migration, diesem »Rendezvous mit der Globalisierung«, wie Wolfgang Schäuble es nannte, sondern auch zum Beispiel aufgrund der Zerrüttung der internationalen Wirtschaftsordnung, wie Trump sie betreibt; oder aufgrund der unzureichenden europäischen Finanzordnung, die einen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte verhindert. In allen diesen Punkten käme es, will man eine wirkliche europäische Lösung, darauf an, dass die ökonomische Vormacht Deutschland mit ordnungspolitischen Schritten in Richtung einer neuen Qualität der europäischen Solidargemeinschaft vorangeht, also »Führungsverantwortung« übernimmt. Doch dies würde die nächste gesellschaftspolitische Konfliktlinie eröffnen, die nicht nur, aber auch und gerade die Unionsparteien durchzieht, so dass hier neuer Zulauf die die AfD befürchtet wird, zumal in Bayern, einem Land, dessen Regierung bereits vor dem Verfassungsgericht gegen den deutschen Länderfinanzausgleich geklagt hatte.

Siebtens. Gleichwohl handelte und handelt es sich auch um die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik. Möglicherweise wird es der SPD gelingen, der »Zurückweisung« eine rechtsstaatliche Form zu geben. Was aber nachhaltig bleibt, dass ist die öffentliche Verrohung. Dabei geht es nicht nur um die Ausbreitung von Wortschöpfungen wie »Asyltourismus«, mit denen Flucht zu einer Art Abenteuerurlaub erklärt wird. Der Bundesinnenminister setzt »Recht und Ordnung« durch und kriminalisiert Seenotrettung. Der Sieg über Merkel wäre, sollte er damit durchkommen, vollständig: Ordnung geht vor humanitärer Nothilfe. Die deutsche Gesellschaft, aus der einst die »Willkommenskultur« hervorging, wird quasi in ein Trainingslager verfrachtet, in dem die nötige Härte erworben werden soll, Menschen beim Ertrinken zuzusehen, damit »Recht und Ordnung« gelten können

Achtens. Die Auseinandersetzungen in der Bundesregierung haben indes auch etwas anderes gezeigt: Bürgerinnen und Bürger, die eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit, die Demokratisierung ihrer Institutionen und die Schaffung neuer sozialstaatlicher Institutionen wollen; die Deutschland zu einer Einwanderungsgesellschaft umgestalten wollen, diese Bürgerinnen und Bürger müssen erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass sie in der öffentlichen Debatte gar nicht (mehr) recht vorkommen, nicht mehr repräsentiert sind. Neben der Frage, wie die Auseinandersetzungen in der Regierung weitergehen, steht auch die Frage auf der politischen Agenda, welche Partei sich so erneuern kann, dass sie diese aufscheinende »Repräsentationslücke« füllen kann. Selbstverständlich haben einige Parteien dazu irgendwo etwas Wichtiges im Programm stehen, indes mach bislang keine Partei die Verbindung dieser beiden Haltungen und Wünsche an die Politik zu ihrem zentralen Thema, von dem aus sich viele andere dann ergeben.

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Die Welt auch mit den Augen des Anderen betrachten können

In den Debatten nicht nur der Linken hat Kritik an »Kosmopolitismus« und linksliberalem »Moralismus« wieder große Konjunktur. Eine Widerrede von Horst Kahrs und Tom Strohschneider auf OXI blog

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Partei der »abgehängten Regionen«? Mitnichten.

Die AfD erzielte in »ländlichen Regionen« höhere Stimmenanteile als in größeren Städten. Schnell entstand die Redewendung von »abgehängten Regionen«, die mit der Wahl der AfD gegen das Verlassen-Werden protestierten. Ein neuer Stadt-Land-Konflikt tue sich auf. So einfach ist es allerdings nicht. Denn die Nationalpopulisten erzielten auch in Großstädten gute Ergebnisse. Die Analyse muss differenzierter ansetzen. Ein kleiner Versuch findet sich im Jahresbericht 2017 der Rosa-Luxemburg-Stiftung bzw. hier: 2018-04-16 Ka AfD gewinnt in Stadt und Land

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Zeit für Programmdebatten – oder doch lieber nicht?

Meist werden Debatten über ein neues Grundsatzprogramm für Parteien dringlich und notwendig, wenn die wirtschaftliche, soziale, politische, institutionelle und bzw. oder kulturelle Umwelt, in der die Partei agiert, wenn die Bedingungen, unter denen in einer Gesellschaft gearbeitet, gelebt, gehandelt wird, sich so entscheidend verändert haben, dass es entweder an programmatischen Antworten fehlt, weil Neues entstanden ist, oder dass die bestehenden programmatischen Vorschläge keine Attraktivität mehr besitzen, weil sie sich als unzureichend, untauglich, unrealistisch erwiesen haben. 

Oder Programmdebatten werden zweitens notwendig, wenn sich die Partei selbst verändert hat, was ja trotz eines gültigen Parteiprogramms möglich ist, wenn sich die Parteimitgliedschaft so neu zusammensetzt, dass Positionen, die bei früheren Debatten in der Minderheit waren, nun eine Mehrheit erreichen könnten; oder wenn neue Anliegen in der Mitgliedschaft nach programmatischer Verständigung drängen. Eine solche Veränderung der Partei selbst kann aber auch indirekt, durch die Bewegung anderer Parteien bewirkt werden, denn Parteien und ihre Funktion für die Wählenden existieren immer in Relation zu anderen Parteien. Festzustellen, ob eine oder mehrere dieser Notwendigkeiten vorliegen, liegt in der politischen Entscheidung der Partei selbst.

 

Die Notwendigkeit einer Programmdebatte ist indes keine hinreichende Bedingung, um sie zu führen. Wichtig ist die Verfassung der Partei: Ist sie in der Lage, eine Programmdebatte zu einem erfolgreichen Ende, also einem neuen Grundsatzprogramm, zu führen? 

Zu den Möglichkeitsbedingungen einer Programmdebatte zählt die Fähigkeit zum innerparteilichen Streit, dessen Voraussetzung die in der innerparteilichen Diskussionskultur gelebte Unterstellung ist, dass alle Beteiligten nur das Beste für die Partei, deren Mitglied sie sind, wollen, und nicht z.B. eine »andere« Partei, nur »bequeme Sessel« oder »Pfründe«, also keine ungesagten Motive gleich welcher Art unterstellt werden. 

Weiter bedarf es einer verbreiteten Einsicht in der Partei über die Gründe, warum diese Debatte notwendig ist, warum also das alte Programm nicht mehr taugt. Man könnte zum Beispiel der Auffassung sein, dass das bestehende Programm am Ende einer früheren Entwicklungsphase der Partei entstanden ist und somit unter so nicht mehr bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Es könnte beispielsweise darum gegangen sein, einen Vereinigungsprozess zweier Parteien erfolgreich abzuschließen, mithin Kompromisse zu formulieren, die jeweiligen unterschiedlichen historischen Wurzeln angemessen waren. 

Oder es könnte darum gegangen sein, programmatische Traditionen zu besetzen, die von anderen Parteien aus welchen Gründen auch immer geräumt wurden, also die politisch »Verlassenen« zu repräsentieren. 

Wie dem auch immer sei: um eine Programmdebatte erfolgreich führen zu können, bedarf es einer Analyse, warum sie notwendig sein soll, die mehrheitlich geteilt wird. 

Eine solche Analyse kann ersetzt werden durch politische Ereignisse, die gleichsam als »externer Schock« wirken. Aus diesen Gründen haben aktuell zwei Parteien eine Programmdebatte angestoßen, weil sie Wahlen bzw. traditionelle Machtperspektiven verloren haben. Für andere Parteien, das zeigt der Blick etwa auf 2013, war auch der Verlust eines Drittels der Stimmen indes kein hinreichendes Schockerlebnis, um eine Grundsatzdebatte zu ermöglichen.

Nicht zu vergessen: Eine zielführende Programmdebatte kommt ohne eine gute Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, also der die Zukunft bestimmenden Entwicklungsdynamiken und der damit einhergehenden zukünftigen (alternativen) Möglichkeiten nicht über das Stadium des Wünschens hinaus. Hierzu bedarf es auch der Verständigung auf einen Zeithorizont, den die programmatischen Forderungen haben sollen, vor allem aber einer nachvollziehbaren Perspektive, warum diese Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden könnten.

Schließlich gehört zu den Möglichkeitsbedingungen einer zu neuem politischen Schwung führenden Programmdebatte auch die Fähigkeit, politische Erlebnisse zu politischen Erfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen. Forderungen und programmatische Positionen, die am Ende klammheimlich darauf setzen, dass es immer ausreichende Mehrheiten gegen ihre Umsetzung gibt, laufen Gefahr, politisch reichlich unbekleidet und hilflos dazustehen, wenn eine Laune der Geschichte dazu führt, dass sie doch »wahr« werden. Eine solche einschneidende Wendung auf einem politischen Feld wie von Ende August 2015 bis zum Frühjahr 2016 unterziehen programmatische Positionen einem Stresstest, einem Realitätscheck. Es bilden sich in der Gesellschaft Urteile darüber neu. Programmatische Wünsche (Ziele) werden plötzlich mit der Frage, wie das alltagspraktisch gehen können soll, konfrontiert. Erst wenn eine Partei als lernende Organisation sich den Fragen des politischen Prozesses stellt: wie kommt man von A nach B, wie geht man mit unerwünschten Nebenwirkungen um usw., erst dann erreicht ein neues Grundsatzprogramm auch eine neue programmatische Qualität. Die liegt dann nicht allein in der Anpassung an veränderte äußere oder innere Bedingungen, sondern schließt immer auch wieder die Lücken, die sich zwischenzeitlich aus dem Handeln der Parteigliederungen auf unterschiedlichen institutionellen Ebenen und in unterschiedlichen politischen Rolle ergeben.

Erst wenn sich eine Partei halbwegs gewiss ist, dass sie nicht alle, aber zumindest mehrere der Möglichkeitsbedingungen zu erfüllen in der Lage ist, kann sie ohne große Sorgen und mit politischer Zuversicht den Notwendigkeiten folgen und mit einer neuen Grundsatzprogramm-Debatte beginnen. Wo das nicht der Fall ist, ist die Methode des Durchwurschtelns die bessere. Oder man startet einen Versuch, in dem man einen Teilaspekt des gesellschaftlichen Wandels zur programmatischen Bearbeitung ausruft, um im Parteienwettbewerb mithalten zu können, also etwa die Frage nach Formen und Finanzierung des Sozialstaates im kommenden digitalen Kapitalismus.

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Deutungsmuster zum AfD-Wahlerfolg

Die Wahlerfolge der AfD haben in den vergangenen vier Jahre zu zahlreichen Deutungsversuchen geführt. Was zum Wahlerfolg 2017 empirische Erhebungen vor und nach dem Wahltag zu sagen haben, haben Thomas Falkner und ich hier zusammengetragen und zurückhaltend kommentiert: Falkner-Kahrs 2018 Literaturbericht Deutungsmuster

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Politische Typologie und Wahlverhalten

Kürzlich veröffentlichte die Hans-Böckler-Stiftung eine Studie, in der gefragt wurde, welche politischen Typen sich unter den Wahlberechtigten identifizieren lassen und welche Veränderungen gegenüber der Vorgängerstudie feststellbar sind: Rita Müller-Hilmer, Jérémie Gagné: Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017; empirische Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Forschungsförderung Report Nr. 2, Düsseldorf, Februar 2018 (https://www.boeckler.de/106826.htm?produkt=HBS-006793&chunk=1&jahr=).

Gemeinsam mit Tom Strohschneider habe ich eine erste kritische Würdigung verfasst: »Warum diese Studie über Armut, Angst und politische Werte mehr Debatte verdient hat« (https://oxiblog.de/studie-boeckler-milieus-werte-parteien-mueller-hilmer-gagne/)

 

Hier nun eine Auswertung des berichteten Wahlverhaltens der politischen Milieu-Typen und die Zusammensetzung der Wählerschaften der einzelnen Bundestagsparteien: 2018-03-18 Ka Zusammensetzung Wählerschaft politische Typen

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SPD-Mitglieder erkaufen Zeit

Mit unerwartet deutlicher Mehrheit haben die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und CSU zugestimmt. Der Regierungsbildung  steht nichts mehr im Wege.

Über die Gründe der Zwei-Drittel-Mehrheit für die neue »GroKo« lässt sich trefflich spekulieren:
War die inhaltliche Zustimmung zu einem Vertrag mit deutlich sozialdemokratischer Handschrift entscheidend? Ging es beim »Ja« um eine Verbeugung vor den verbliebenen sozialdemokratischen Anhängern, die im September die Partei gewählt hatten, damit sie – in welcher Konstellation auch immer – möglichst viele Teile des Wahlprogramms umsetze und die in Umfragen mehrheitlich für die »GroKo« waren? Wurde der politische Kompromiss als ein ausreichend guter gewürdigt? War es Resignation angesichts des strategischen Unvermögens des Parteivorstandes unter Martin Schulz, den Weg in die Opposition aus öffentlich nachvollziehbaren inhaltlich Gründen zu finden? War es die Sorge, bei einer Mehrheit für »NoGroko« die gesamte Parteiführung politisch zu desavouieren? Oder schlicht die Auffassung bzw. Ahnung, dass sowohl eine Minderheitsregierung als auch Neuwahlen die schlechtere Wahl für die Partei gewesen wären, dass Regieren auf jeden Fall also mehr Optionen bereithalte?

Wie dem auch sei: Das Land bekommt nun die beste Regierung, die es unter den gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag und in der gesellschaftlichen Stimmungslage bekommen konnte.

Und: Die Mehrheit der Mitglieder der SPD hat der politischen und gesellschaftlichen Linken im Land Zeit gekauft, zunächst einmal zwei Jahre bis zur »Überprüfung« des Koalitionsvertrages. Zeit, die dringend gebraucht wird zur politischen Orientierung angesichts der Rechtsentwicklung in Politik und Gesellschaft, angesichts des fortschreitenden Übergangs des Nationalen ins Nationalistische, angesichts programmatischer Leerstellen mit Blick auf die rasanten, technologisch ermöglichten Umwälzungen in Produktion, Konsum und Lebensweise, die wiederum die soziale und kulturelle Fragmentierung der  Gesellschaft vorantreiben. Schließlich: Wie wird von links Gleichheit und soziale Gerechtigkeit politisch so gefüllt, dass das unveräußerliche Ziel universeller, globaler Gültigkeit erkennbar ist bzw. wird, was bedeutet das für eine sozial und ökologisch »nachhaltige« Wirtschaftsweise? Es ist ja dieses vielfältige »Unbehagen« vor den technologischen Folgen und den globalen Problemen und ihrer menschlichen Inkarnation als Hungernde, Leidende, Arbeitslose, Ausgebeutet und Entheimatete, welches die Erfolge neonationalistische Strategien zur Verteidigung des erreichten sozialen Wohlstandes antreibt und links weitgehend politische Ratlosigkeit und Erosion hinterlassen hat.

Die nächsten zwei Jahre »GroKo« sind erkaufte Zeit, um bei den nächsten Wahlen eine politische Kehrtwende zu erreichen. SPD, LINKE und auch Grüne werden diese Zeit je für sich zu nutzen haben. Von entscheidender Bedeutung wird indes sein, wie sich innerhalb der SPD und innerhalb der Linkspartei die innerparteilichen Debatten entlang der materiellen und kulturellen/mentalen/habituellen Probleme (ja, sprechen wir wieder von »Problemen« und nicht managerdeutsch von »Herausforderungen«) mit der Migration entwickeln werden. Denn hierbei geht es um die politische Fähigkeit, zwischen den gegenwärtig auseinander strebenden Angehörigen unterschiedlicher sozialer Lebenslagen und politischer Milieus gesellschaftspolitische Brücken zu erneuern.

Ob es was werden kann mit »Erneuerung« und politischer Wende, dass wird sich spätestens im Mai 2019 erweisen, wenn wieder Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Von links wären hierzu Vorschläge für den föderativen Umbau der EU zu erwarten, die das undemokratische Geklüngel der nationalen Regierungschefs durchbrechen. Einiges, etwa zur größeren Rolle von Städten und Regionen, liegt da auch von der linken Seite auf dem Tisch. Bei den letzten Europawahlen führten Sozialdemokraten und Christdemokraten mit ihren europäischen Spitzenkandidaten Junkers und Schulz einen in Ansätzen europäischen Wahlkampf. Im Gegensatz dazu schaffte es die Europäische Linkspartei nicht, sich wieder wie 2009 auf eine gemeinsame Wahlplattform zu verständigen. Gelingt es 2019 wieder nicht, die national-nationalistische Perspektive auf Vor- und Nachteile »Europas« in einer europäischen Perspektive auf Arbeit, Löhne und Sozialstaat, in einer linken »europäischen Sammlungsbewegung«  aufzuheben – mit allen Folgerungen für die politische Auseinandersetzung im jeweiligen Lande -, dann fehlte der auch für eine Erneuerung der SPD notwendige »Zug nach links« (statt »Druck von links«), dann wäre die jetzt erkaufte Zeit wohl bereits vorfristig vertan.

 

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