»Europa« im Zangengriff einer Polarisierung? Wie die komplexen europäischen Verhältnisse einfach erklärt werden, damit sich wenig ändert

Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 gelten in weiten Teilen der deutschen politischen Öffentlichkeit als europäische »Schicksalswahl«. Befürchtet wird ein starker Stimmenzuwachs für EU- und Euro-skeptische Parteien im rechten, nationalistischen Parteispektrum und, vor allem, eine neue Qualität in der politischen Fähigkeit dieser Parteien zur Fraktionsbildung im Europäischen Parlament, also zur politischen Formierung. Dagegen wird ein Bekenntnis zu »Europa« mobilisiert, doch dieser Mobilisierung fehlt weitgehend ein entscheidendes Moment: Was müsste sich (an der deutschen Politik) ändern, damit der mehrheitliche Wunsch nach engeren Kooperation in der EU Wirklichkeit werden kann?

Stattdessen wird vielfach eine Polarisierung behauptet, in der sich »Skeptiker« und »Befürworter«, im weiteren dann »Ängstliche« und »Zuversichtliche«, »Verlierer« und »Gewinner« gegenüberstehen, denen dann wieder politische Aspirationen zugewiesen werden: die einen wollen zurück in eine bessere Vergangenheit, die anderen wollen weiter die Welle des Erfolgs in eine bessere Zukunft reiten. Diese Erklärungen bestätigen vor allem eines: ein ökonomistisches Weltbild, in dem es nur um Gewinnen und Verlieren, um Konkurrenz statt Kooperation geht.

Empirische Studien (nicht nur) aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung sollen diese dichotomen Spaltungen als europaweit gültig und das Wahlverhalten leitend belegen. Tatsächlich gelingt das nicht. Vielmehr zeigt sich die Armut empirischer Sozialwissenschaft, die graduelle metrische Unterschiede in qualitative Polarisierungen verwandelt.

Der Blick auf die zugänglichen empirischen Daten offenbart oftmals größere Unterschiede zwischen den Befragten einzelner Länder als entlang der behaupteten Polarisierungen. Auch finden sich die Polarisierungen in den Anhängerschaften aller Parteien wieder und mehrheitlich nur mit graduellen Unterschieden. Nur in wenigen Ländern wie Frankreich ist eine große Übereinstimmung zwischen der Zuordnung zu einem Pol und der Parteiaffinität feststellbar.

Schließlich müssen die Studien selbst zugestehen, dass etwa die Skepsis gegenüber dem Zustand der EU oder der Lage im eigenen Land unterschiedliche politische Auswege kennt. Das Lager der »Besorgten« teilt sich selbst wieder in diejenigen, die mehr sozialen Schutz durch eine stärkere EU wollen, und diejenigen, die auf eine Stärkung des Nationalstaates setzen. Für politische Alternativen zur vorherrschenden Politik wäre dies womöglich der weitaus interessantere Befund.

Die Studien der Bertelsmann-Stiftung wie auch die Befundes des Eurobarometers legen vor allem nahe, sich für einfachen und dichotomischen Erklärungsmustern zu hüten. Tatsächlich lassen sich in der europäischen Vielfalt eher unterschiedliche Gruppen von Ländern ausmachen, in denen sich ein ähnlicher Blick auf die EU herausgebildet hat. Es verbietet sich daher auch deshalb, das Wahlverhalten in den europäischen Staaten bei der Wahl zum europäischen Parlament nach einem einheitlichen Muster erklären zu wollen.

Die Erklärungen aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung tragen den Charakter einer Gegenmobilisierung. Gegen die von Rechten mobilisierte Angst vor »Brüssel« wird die Angst um die liberal-demokratische Zukunft Europas gesetzt: »Europa« ist von außen bedroht durch Protektionismus und die amerikanische Außenpolitik, von innen durch »die Populisten«. 

Mehr hier:

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Die Europäische Union und ihre Linksparteien vor der Wahl

Auf der Web-Seite des linken Netzwerkes Transform!Europe finden sich in englischer Sprache eine Reihe interessanter Länderbericht zur politischen Situation für den Wahlen zum Europäischen Parlament:

https://www.transform-network.net/focus/overview/ep-2019-the-european-left-one-mouth-many-voices/

Der Beitrag zu Deutschland erscheint dort in diesen Tagen.

Kein »Rückfall in Nationalismus« – ohne klar europäische Themen und Projekte?

Die Wahl zum Europäischen Parlament 2019 findet in Deutschland am 26. Mai zeitgleich mit der Wahl zum Landesparlament im Stadtstaat Bremen und mit Kommunalwahlen in zehn Bundesländern statt. Bereits 2014 hatte die Zusammenlegung der Wahltermine von EP-Wahl und Kommunalwahl in fünf Ländern dort eine positive Wirkung auf die Wahlbeteiligung. Allein deshalb kann erneut mit einer höheren Wahlbeteiligung gerechnet werden. Gleichzeitig stößt die EP-Wahl selbst bisher auf ein größeres Interesse als diejenige 2014. Die Ursachen hierfür betreffen vor allem (I.) die Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem seit 2014 und (II.) die allgemeine Stimmungslage in der wahlberechtigten Bevölkerung, die auch von der Sorge vor einen »Rückfall in Nationalismus« getragen ist. Fraglich indes ist, ob und wie die Parteien daraus in ihren Wahlkampfstrategien Nutzen ziehen wollen (III.).
Der vollständige Beitrag, erstellt Anfang April, hier:

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Transformation und Erosion – Parteiensysteme im Umbruch

Das sind die Themen der aktuellen März-Ausgabe der Zeitschrift „Z“. Im Editorial heißt es: »Die Welt scheint aus den Fugen. In fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern – den USA ebenso wie jenen der EU – zeigen sich ausgeprägte Erosionserscheinungen der traditionellen politischen Systeme. Soziale Desintegrationsprozesse spitzen sich zu, vormals stabile Parteien und Parteiensysteme lösen sich auf, autoritär-nationale Demagogie hat Zulauf. Der Kontrollverlust der politischen und ökonomischen „Eliten“ ist mit Händen zu greifen. „Neue Unsicherheit“ greift um sich. Die Krise der politischen Parteien und der Politik stehen im Mittelpunkt dieser Ausgabe.«

Das vollständige Editorial sowie mein Beitrag »Transformationen des Parteisystems und der autoritäre Nationalismus« hier:

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»Deutschland vor der Europa-Wahl«

… lautet eine Online-Befragung, die Richard Hilmer von policy matters auf dem Neujahrsempfang der Hans-Böckler-Stiftung am 12. Februar 2019 in Berlin vorgestellt hat. Ausgewählte Ergebnisse mit Blick auf die gesellschaftliche und politische Linke finden sich in einer kommentierten Auswertung hier:

»Die (verbliebene) Basis der (parteiförmigen wie gesellschaftlichen) Linken in den alten, an Bedeutung verlierenden Arbeitnehmerschichten und dem neuen Dienstleistungsproletariat zeichnet sich offensichtlich dadurch aus, dass sie ›sozialen Fragen‹ nicht im Rahmen nationaler Fragen betrachtet. Diese Sichtweise, die Rechte der Arbeit, gegen die Drinnen-Draußen-Logik zu stärken könnte die zentrale Achse sein, die Angehörige unterschiedlicher politischer Milieutypen gegen ein weniger, für ein mehr Europa verbindet.«

Tom Strohschneider hat auf OXI-Blog Erkenntnisse aus anderen Umfragen hinzugefügt: https://oxiblog.de/mehr-eu-die-milieus-der-linkspartei-und-was-neue-studien-sagen/

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Nach den Landtagswahlen bleibt alles anders

Der Wandel der deutschen Parteienlandschaft nimmt nach den jüngsten Landtagswahlen an Geschwindigkeit zu. Die Union trägt einen Richtungsentscheid auf offener Bühne aus, die Sozialdemokratie hat die Rettungsleine immer noch nicht gefunden, die Grünen finden sich unversehens in der Rolle des Gegenpols zur AfD von den Wählerinnen und Wählern geschätzt. Einige Vorschläge, wie das alles zu deuten sein könnte, mache ich hier: Anmerkungen zur politischen Lage.

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Schwarz-Grün knapp bestätigt trotz historischem Einbruch bei CDU – Grüne neue Partei der Mitte?

Der 18. Hessische Landtag ist gewählt, der Ausgang war knapp: Schwarz-grün bekommt 69 von 137 Sitzen, die Grünen liegen vorläufig mit nicht einmal 100 Stimmen Vorsprung auf die SPD auf Platz zwei, die AfD sitzt nun in allen Landtagen und die Linkspartei dümpelt vor sich hin. Hier der vollständige Wahlnachtbericht:
2018-10-29 Ka LTW18 HE WNB

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Wahl zum 18. Bayerischen Landtag am 14.10.2018 – Wahlnachtbericht und erster Kommentar

Die Bayerinnen und Bayern haben sich einen neuen Landtag gewählt, mit der höchsten Wahlbeteiligung seit 1986, dem schlechtesten Ergebnis für die CSU seit 1954, dem historisch allerschlechtesten für die SPD und vielem mehr – hier in einer um einige Zahlen ergänzten Fassung nachzulesen: 2018-10-14 LTW BY WNB

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»Arbeiter«: Von der Mehrheit zur Minderheit

Für 2017 weist die amtliche Statistik nicht einmal mehr 18% der Erwerbstätigen als »Arbeiter« oder »Arbeiterin« aus. Ältere Jahrgänge erinnern noch andere Zeiten, in denen nahezu die Hälfte aller Erwerbstätigen in der sozialen Position »Arbeiter« geführt wurde und damit in der dominanten, den gesellschaftlichen Alltag und die »normalen« Lebenseinstellungen prägenden Status-Gruppe. Arbeiter und Arbeiterin war, wer überwiegend körperliche Arbeit verrichtete, im Blaumann statt mit weißem Kragen zur Arbeit ging, die dann auf jeden Fall nicht im Büro verrichtet wurde, und wer dafür meist wöchentlich eine Lohntüte erhielt.

Vom Arbeiter zum Angestellten, das war für viele ein erstrebenswertes soziales Aufstiegsziel. Nun scheint sich die »soziale Flugbahn« des Arbeiters in den entwickeltsten Ländern entscheidend zu senken. Wenn immer weniger die typischen Merkmale des »Arbeiters« aufweisen und sich als solchen im Gegensatz zu anderen Statusgruppen betrachten, welchen Sinn macht es dann noch, in Politik, Wahlforschung und Klassenanalyse vom »Arbeiter« zu reden – wenn damit nicht eine rein analytische Kategorie gemeint ist? Eine kleine Datensammlung zum Thema hier

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Das Vermögen der »kleinen Leute«

Die ungleiche Verteilung des Vermögens in der deutschen Gesellschaft wurde vielfach berichtet. Lässt man sozialstaatlich garantierte eigentumsähnliche Ansprüche (z.B. Rentenansprüche) außen vor, zählt sie zu den größten Ungleichheiten in den OECD-Staaten. Doch kommt es nur auf die Größe des Vermögens an, wenn man die Bedeutung von Geld- und Immobilienbesitz für die Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage erfassen will? Oder stürzt nicht z.B. auch schon kleiner Aktienbesitz, der einen hohen Stellenwert in der eigenen Alterssicherungsstrategie besitzt, in den Zwiespalt, zwischen den ja keineswegs identischen Interessen von »shareholder« und »stakeholder« entscheiden zu müssen? Wie verbreitet ist eigentlich der Vermögensbesitz unter Arbeitern sowie einfachen und mittleren Angestellten? Daten dazu hier: 2018-08-16 Ka Vermögensverhältnisse Arbeiter-Angestellte

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Mehr als politisches »Affentheater« in der Abenddämmerung zweier Polit-Karrieren

Acht Anmerkungen zur jüngsten Regierungskrise, Ereignisstand am 4.7.2018 11:59

Erstens. Die offene Regierungskrise scheint zunächst durch eine gemeinsame Absichtserklärung der Bundeskanzlerin und des Bundesinnenministers abgewendet. Den unmittelbaren politischen Schaden luden die CDU-Vorsitzende und der CSU-Vorsitzende beim gemeinsame Koalitionspartner ab. Die SPD muss erneut mit sich ringen, ob sie einem politischen Vorhaben, welches sie erstens bereits einmal ablehnte und welches zweitens durch den Koalitionsvertrag nicht gedeckt ist, zustimmt, in welcher konkreten Ausgestaltung und unter welchen Bedingungen. Was auch immer dabei herauskommen wird, bleiben wird was auf offener Bühne zu sehen war. Ein unberechenbarer Bundesinnenminister, der sich, jeglichen bürgerlichen Anstand fahren lassend, über »seine« Kanzlerin ungestraft lustig machen darf; eine Bundeskanzlerin, die nicht mehr die politische Kraft besitzt, ihren offen meuternden Innenminister umgehend zu entlassen, wie es jeder Vorgesetzte mit einem Mitarbeiter machen würde; ein Koalitionspartner, der dem dreiwöchigen Treiben brav zuschaut, nun aber sich daran messen lassen muss, warum eigene Vorhaben und Ziele nicht ähnlich rücksichtslos durchgefochten werden wie Seehofer es vorgemacht hat. Mit anderen Worten, die Regierungskoalition ist mit dem Vorhaben, das »Vertrauen der Bürger« durch »Sachpolitik« zurückgewinnen zu wollen, grandios gescheitert. Vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Bearbeitung der wirklich großen Probleme wie Investitionen in die Infrastruktur, Wohnen, Pflege, Bildung, Integration von Deutschen wie Nichtdeutschen – wird es in dieser Bundesregierung mit diesem Personal nicht mehr geben. Es herrscht lediglich brüchiger Waffenstillstand, spätestens nach den Herbstwahlen in Bayern und Hessen geht der Vorhang wieder auf.

Zweitens. Die AfD dominiert tatsächlich die deutsche Politik. Der Koalitionsvertrag lässt sich auch lesen als Kompromiss zwischen drei unterschiedlichen Strategien, mit denen auf den AfD-Wahlerfolg reagiert wird: die SPD will soziale Themen stark machen in der Hoffnung, damit die »Verlierer der Globalisierung«, die zur AfD gewandert seien, zurückzugewinnen; die CDU setzt auf Helmut Kohls Europa-Strategie und »notwendige« wirtschaftskonforme Anpassungen und Modernisierungen im Rahmen eines liberalen Konservatismus, um durch den Glanz der erzielten Erfolge die Rebellion der Wert- und Nationalkonserativen einfangen zu können; die CSU schließlich setzt auf die nationale Karte und die Rolle einer AfD ohne »Vogelschiss«, hat aber eigentlich den Zeitpunkt verpasst, sich als gesamtdeutsche Partei zu etablieren, als die sie in den Koalitionsverhandlungen bereits wahrgenommen wurde. Zwischen diesen drei Strategien war ein Zusammenstoß, unabhängig von persönlichen Feindschaften und alten Rechnungen, letztlich unausweichlich.

Drittens. Im Prolog kündigte der Bundesinnenminister die öffentliche Verkündung eines »Masterplans« zum Schutz der Heimat vor »ungeregelten« Migranten an, den auch in der Regierung kaum jemand kannte, der Teile des Koalitionsvertrages hinterging und dessen Verkündung, zumal wenige Tage vor einem EU-Gipfel, von der Kanzlerin blockiert wurde. Damit hatte Seehofer, was er wollte: eine Neuauflage seines seit 2015 bestehenden Konflikts mit der Kanzlerin, die dieses Mal den entscheidenden Erfolg bringen sollte: das offene, für alle sichtbare Eingeständnis der Kanzlerin, dass ihre Flüchtlingspolitik vom Spätsommer und Frühherbst 2015 gescheitert sei; oder wie die CSU es seit der Einigung nennt: die »Asylwende«. Mit diesem symbolischen Erfolg glaubten Söder, Dobrindt und Seehofer, den bayrischen Wählerinnen und Wählern signalisieren zu können, dass sie nicht nur von Anfang an in der Flüchtlingsfrage dachten wie die AfD, sondern dass sie ihre Position auch durchsetzen können – Botschaft: Wer AfD-Politik ohne neonazistische Streifen will, muss CSU wählen. Sollte das nicht im erwarteten Ausmaß der Fall sein, muss einer der drei Herren die politische Verantwortung übernehmen, wobei zwei sich einig sind, wer das sein wird.

Viertens. Vordergründig wurde um die Frage gestritten, wie mit Migranten zu verfahren sei, die an der (bayrischen) Grenze zu Österreich kontrolliert werden, deren Daten aber bereits in einem anderen EU-Land erfasst wurden, weshalb gemäß des europäischen Regelwerks (»Dublin«) dieses Land für das Asylverfahren zuständig sein soll. Dies traf in 2018 bis Mitte Juni auf gut 18.000 Personen zu, darunter nicht einmal die Hälfte, deren Antrag bereits in einem anderen EU-Land abgelehnt wurde und die nun einen erneuten Asyl-Antrag in Deutschland stellen wollen. Während erstere Gruppe bereits heute abgewiesen wird bzw. werden kann ist es bei der zweiten Gruppe rechtsstaatlich nicht so einfach. Denn es gibt für sie kein »zuständiges« EU-Land mehr. Seehofer will sie erst gar nicht auf das Territorium des »deutschen Rechtsstaat« lassen. Warum taugt der Umgang mit ein paar tausend Menschen dazu, ein paar Politikerinnen und Politiker in eine auch persönlich geführte Auseinandersetzung zu treiben, die erst kurz vor dem Zerfall der Regierung endet, nicht aber etwa das Schicksal von über einer Million Obdachloser im Land, wohnungssuchenden Familien, in Armut aufwachsenden Kindern? Die Antwort kann nur lauten: es geht nicht um die asylsuchenden Menschen, sondern um eine politische Richtungsfrage, nicht nur in Sachen »Verteidigung der Wohlstands-Festung Europa« auf Kosten aller oft beschworenen »europäischen Werte«.

Fünftens. Im Sommer und Herbst 2015 hat Angela Merkel, entgegen vieler Darstellungen, die Grenzen nicht geöffnet, denn die deutsch-österreichische Grenze war offen, sie hat unterlassen, die Grenzen zu schließen, weil sie keine Kettenreaktion auslösen wollte, an deren Ende statt des Schengen-Raums wieder nationale Grenzkontrollen stehen. Merkel wollte die Voraussetzungen für eine »europäische Lösung« aufrechterhalten. Begründet hat sie dies auch mit christlicher Pflicht zur »Nothilfe«, was ihr viel Zuspruch über die Parteigrenzen hinweg einbrachte. Seehofer stand bereits damals für eine Schließung der Grenzen nach dem Vorbild Orbans in Ungarn und begründete dies mit der Einhaltung von Recht und Ordnung statt der Merkel’schen »Herrschaft des Unrechts«. Der politische Kern des Konflikts zwischen beiden bestand weniger im Ziel: die Migration nach Europa zu regulieren und einzudämmen; sondern im Weg, wie man am besten dahin käme: auf dem Weg der Re-Nationalisierung oder der »Vertiefung der europäischen Integration« durch gemeinsam Flüchtlingsabwehr. Symbolisch stehen dafür die guten »außenpolitischen« Beziehungen der bayerischen Landesregierung zu Victor Orban und Sebastian Kurz einerseits und diejenigen von Merkel zu Macron andererseits. Seehofer agierte auf der Grundlage, dass die verabredete Verteilung von Flüchtlingen in andere EU-Staaten von nationalistischen Regierungen offen abgelehnt wurde und setzte darauf, dass sich die Renationalisierung der EU ausweiten würde, während Merkel, dem »Geist der Partnerschaft in der Europäischen Union« im Sinne Helmut Kohls verpflichtet, weiter auf gemeinsame und am Ende verpflichtende europäische Schritte setzte. Möglicherweise hat ihre Bereitschaft, sich auf Reformvorschläge von Macron einzulassen, insbesondere solche, die die finanziellen Angelegenheiten zwischen den EU-Staaten und ihren Institutionen in Richtung »Solidargemeinschaft« neu regeln würden, den Ausschlag gegeben, die Entscheidung jetzt und an der Flüchtlingsfrage zu suchen. Denn bei aller persönlichen Feindschaft zwischen den beiden Personen stehen sie auch für unterschiedliche politische Konzeptionen, die jeweils Unterstützer und Unterstützerinnen in beiden Parteien haben. Die offensichtliche innenpolitische Erpressbarkeit der Kanzlerin, die sich von einem ihrer Minister Ultimaten stellen lässt, hat dazu beigetragen, die Rolle und Position nationalistischer Regierungen in der EU zu stärken.

Sechstens. Berthold Kohler, Mitherausgeber der Zeitung, in der sich das Bürgertum politisch verständigt, bemerkte jetzt, dass der Streit nur vordergründig um eine Frage ging, »die sich allenfalls wie eine Randnotiz ausnimmt im großen Drama der neuen Völkerwanderung, die den Sehnsuchtskontinent unzähliger Migranten politisch erschüttert und verändert wie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nichts mehr«. Die Neukonstitution Europas bzw. der EU – wobei Neu-Konstitution Austritte einschließt – steht auf der politischen Agenda. Allerdings nicht nur wegen der globalen Migration, diesem »Rendezvous mit der Globalisierung«, wie Wolfgang Schäuble es nannte, sondern auch zum Beispiel aufgrund der Zerrüttung der internationalen Wirtschaftsordnung, wie Trump sie betreibt; oder aufgrund der unzureichenden europäischen Finanzordnung, die einen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte verhindert. In allen diesen Punkten käme es, will man eine wirkliche europäische Lösung, darauf an, dass die ökonomische Vormacht Deutschland mit ordnungspolitischen Schritten in Richtung einer neuen Qualität der europäischen Solidargemeinschaft vorangeht, also »Führungsverantwortung« übernimmt. Doch dies würde die nächste gesellschaftspolitische Konfliktlinie eröffnen, die nicht nur, aber auch und gerade die Unionsparteien durchzieht, so dass hier neuer Zulauf die die AfD befürchtet wird, zumal in Bayern, einem Land, dessen Regierung bereits vor dem Verfassungsgericht gegen den deutschen Länderfinanzausgleich geklagt hatte.

Siebtens. Gleichwohl handelte und handelt es sich auch um die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik. Möglicherweise wird es der SPD gelingen, der »Zurückweisung« eine rechtsstaatliche Form zu geben. Was aber nachhaltig bleibt, dass ist die öffentliche Verrohung. Dabei geht es nicht nur um die Ausbreitung von Wortschöpfungen wie »Asyltourismus«, mit denen Flucht zu einer Art Abenteuerurlaub erklärt wird. Der Bundesinnenminister setzt »Recht und Ordnung« durch und kriminalisiert Seenotrettung. Der Sieg über Merkel wäre, sollte er damit durchkommen, vollständig: Ordnung geht vor humanitärer Nothilfe. Die deutsche Gesellschaft, aus der einst die »Willkommenskultur« hervorging, wird quasi in ein Trainingslager verfrachtet, in dem die nötige Härte erworben werden soll, Menschen beim Ertrinken zuzusehen, damit »Recht und Ordnung« gelten können

Achtens. Die Auseinandersetzungen in der Bundesregierung haben indes auch etwas anderes gezeigt: Bürgerinnen und Bürger, die eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit, die Demokratisierung ihrer Institutionen und die Schaffung neuer sozialstaatlicher Institutionen wollen; die Deutschland zu einer Einwanderungsgesellschaft umgestalten wollen, diese Bürgerinnen und Bürger müssen erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass sie in der öffentlichen Debatte gar nicht (mehr) recht vorkommen, nicht mehr repräsentiert sind. Neben der Frage, wie die Auseinandersetzungen in der Regierung weitergehen, steht auch die Frage auf der politischen Agenda, welche Partei sich so erneuern kann, dass sie diese aufscheinende »Repräsentationslücke« füllen kann. Selbstverständlich haben einige Parteien dazu irgendwo etwas Wichtiges im Programm stehen, indes mach bislang keine Partei die Verbindung dieser beiden Haltungen und Wünsche an die Politik zu ihrem zentralen Thema, von dem aus sich viele andere dann ergeben.

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Die Welt auch mit den Augen des Anderen betrachten können

In den Debatten nicht nur der Linken hat Kritik an »Kosmopolitismus« und linksliberalem »Moralismus« wieder große Konjunktur. Eine Widerrede von Horst Kahrs und Tom Strohschneider auf OXI blog

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Partei der »abgehängten Regionen«? Mitnichten.

Die AfD erzielte in »ländlichen Regionen« höhere Stimmenanteile als in größeren Städten. Schnell entstand die Redewendung von »abgehängten Regionen«, die mit der Wahl der AfD gegen das Verlassen-Werden protestierten. Ein neuer Stadt-Land-Konflikt tue sich auf. So einfach ist es allerdings nicht. Denn die Nationalpopulisten erzielten auch in Großstädten gute Ergebnisse. Die Analyse muss differenzierter ansetzen. Ein kleiner Versuch findet sich im Jahresbericht 2017 der Rosa-Luxemburg-Stiftung bzw. hier: 2018-04-16 Ka AfD gewinnt in Stadt und Land

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