Meist werden Debatten über ein neues Grundsatzprogramm für Parteien dringlich und notwendig, wenn die wirtschaftliche, soziale, politische, institutionelle und bzw. oder kulturelle Umwelt, in der die Partei agiert, wenn die Bedingungen, unter denen in einer Gesellschaft gearbeitet, gelebt, gehandelt wird, sich so entscheidend verändert haben, dass es entweder an programmatischen Antworten fehlt, weil Neues entstanden ist, oder dass die bestehenden programmatischen Vorschläge keine Attraktivität mehr besitzen, weil sie sich als unzureichend, untauglich, unrealistisch erwiesen haben.
Oder Programmdebatten werden zweitens notwendig, wenn sich die Partei selbst verändert hat, was ja trotz eines gültigen Parteiprogramms möglich ist, wenn sich die Parteimitgliedschaft so neu zusammensetzt, dass Positionen, die bei früheren Debatten in der Minderheit waren, nun eine Mehrheit erreichen könnten; oder wenn neue Anliegen in der Mitgliedschaft nach programmatischer Verständigung drängen. Eine solche Veränderung der Partei selbst kann aber auch indirekt, durch die Bewegung anderer Parteien bewirkt werden, denn Parteien und ihre Funktion für die Wählenden existieren immer in Relation zu anderen Parteien. Festzustellen, ob eine oder mehrere dieser Notwendigkeiten vorliegen, liegt in der politischen Entscheidung der Partei selbst.
Die Notwendigkeit einer Programmdebatte ist indes keine hinreichende Bedingung, um sie zu führen. Wichtig ist die Verfassung der Partei: Ist sie in der Lage, eine Programmdebatte zu einem erfolgreichen Ende, also einem neuen Grundsatzprogramm, zu führen?
Zu den Möglichkeitsbedingungen einer Programmdebatte zählt die Fähigkeit zum innerparteilichen Streit, dessen Voraussetzung die in der innerparteilichen Diskussionskultur gelebte Unterstellung ist, dass alle Beteiligten nur das Beste für die Partei, deren Mitglied sie sind, wollen, und nicht z.B. eine »andere« Partei, nur »bequeme Sessel« oder »Pfründe«, also keine ungesagten Motive gleich welcher Art unterstellt werden.
Weiter bedarf es einer verbreiteten Einsicht in der Partei über die Gründe, warum diese Debatte notwendig ist, warum also das alte Programm nicht mehr taugt. Man könnte zum Beispiel der Auffassung sein, dass das bestehende Programm am Ende einer früheren Entwicklungsphase der Partei entstanden ist und somit unter so nicht mehr bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Es könnte beispielsweise darum gegangen sein, einen Vereinigungsprozess zweier Parteien erfolgreich abzuschließen, mithin Kompromisse zu formulieren, die jeweiligen unterschiedlichen historischen Wurzeln angemessen waren.
Oder es könnte darum gegangen sein, programmatische Traditionen zu besetzen, die von anderen Parteien aus welchen Gründen auch immer geräumt wurden, also die politisch »Verlassenen« zu repräsentieren.
Wie dem auch immer sei: um eine Programmdebatte erfolgreich führen zu können, bedarf es einer Analyse, warum sie notwendig sein soll, die mehrheitlich geteilt wird.
Eine solche Analyse kann ersetzt werden durch politische Ereignisse, die gleichsam als »externer Schock« wirken. Aus diesen Gründen haben aktuell zwei Parteien eine Programmdebatte angestoßen, weil sie Wahlen bzw. traditionelle Machtperspektiven verloren haben. Für andere Parteien, das zeigt der Blick etwa auf 2013, war auch der Verlust eines Drittels der Stimmen indes kein hinreichendes Schockerlebnis, um eine Grundsatzdebatte zu ermöglichen.
Nicht zu vergessen: Eine zielführende Programmdebatte kommt ohne eine gute Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, also der die Zukunft bestimmenden Entwicklungsdynamiken und der damit einhergehenden zukünftigen (alternativen) Möglichkeiten nicht über das Stadium des Wünschens hinaus. Hierzu bedarf es auch der Verständigung auf einen Zeithorizont, den die programmatischen Forderungen haben sollen, vor allem aber einer nachvollziehbaren Perspektive, warum diese Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden könnten.
Schließlich gehört zu den Möglichkeitsbedingungen einer zu neuem politischen Schwung führenden Programmdebatte auch die Fähigkeit, politische Erlebnisse zu politischen Erfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen. Forderungen und programmatische Positionen, die am Ende klammheimlich darauf setzen, dass es immer ausreichende Mehrheiten gegen ihre Umsetzung gibt, laufen Gefahr, politisch reichlich unbekleidet und hilflos dazustehen, wenn eine Laune der Geschichte dazu führt, dass sie doch »wahr« werden. Eine solche einschneidende Wendung auf einem politischen Feld wie von Ende August 2015 bis zum Frühjahr 2016 unterziehen programmatische Positionen einem Stresstest, einem Realitätscheck. Es bilden sich in der Gesellschaft Urteile darüber neu. Programmatische Wünsche (Ziele) werden plötzlich mit der Frage, wie das alltagspraktisch gehen können soll, konfrontiert. Erst wenn eine Partei als lernende Organisation sich den Fragen des politischen Prozesses stellt: wie kommt man von A nach B, wie geht man mit unerwünschten Nebenwirkungen um usw., erst dann erreicht ein neues Grundsatzprogramm auch eine neue programmatische Qualität. Die liegt dann nicht allein in der Anpassung an veränderte äußere oder innere Bedingungen, sondern schließt immer auch wieder die Lücken, die sich zwischenzeitlich aus dem Handeln der Parteigliederungen auf unterschiedlichen institutionellen Ebenen und in unterschiedlichen politischen Rolle ergeben.
Erst wenn sich eine Partei halbwegs gewiss ist, dass sie nicht alle, aber zumindest mehrere der Möglichkeitsbedingungen zu erfüllen in der Lage ist, kann sie ohne große Sorgen und mit politischer Zuversicht den Notwendigkeiten folgen und mit einer neuen Grundsatzprogramm-Debatte beginnen. Wo das nicht der Fall ist, ist die Methode des Durchwurschtelns die bessere. Oder man startet einen Versuch, in dem man einen Teilaspekt des gesellschaftlichen Wandels zur programmatischen Bearbeitung ausruft, um im Parteienwettbewerb mithalten zu können, also etwa die Frage nach Formen und Finanzierung des Sozialstaates im kommenden digitalen Kapitalismus.