SPD-Mitglieder erkaufen Zeit

Mit unerwartet deutlicher Mehrheit haben die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und CSU zugestimmt. Der Regierungsbildung  steht nichts mehr im Wege.

Über die Gründe der Zwei-Drittel-Mehrheit für die neue »GroKo« lässt sich trefflich spekulieren:
War die inhaltliche Zustimmung zu einem Vertrag mit deutlich sozialdemokratischer Handschrift entscheidend? Ging es beim »Ja« um eine Verbeugung vor den verbliebenen sozialdemokratischen Anhängern, die im September die Partei gewählt hatten, damit sie – in welcher Konstellation auch immer – möglichst viele Teile des Wahlprogramms umsetze und die in Umfragen mehrheitlich für die »GroKo« waren? Wurde der politische Kompromiss als ein ausreichend guter gewürdigt? War es Resignation angesichts des strategischen Unvermögens des Parteivorstandes unter Martin Schulz, den Weg in die Opposition aus öffentlich nachvollziehbaren inhaltlich Gründen zu finden? War es die Sorge, bei einer Mehrheit für »NoGroko« die gesamte Parteiführung politisch zu desavouieren? Oder schlicht die Auffassung bzw. Ahnung, dass sowohl eine Minderheitsregierung als auch Neuwahlen die schlechtere Wahl für die Partei gewesen wären, dass Regieren auf jeden Fall also mehr Optionen bereithalte?

Wie dem auch sei: Das Land bekommt nun die beste Regierung, die es unter den gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag und in der gesellschaftlichen Stimmungslage bekommen konnte.

Und: Die Mehrheit der Mitglieder der SPD hat der politischen und gesellschaftlichen Linken im Land Zeit gekauft, zunächst einmal zwei Jahre bis zur »Überprüfung« des Koalitionsvertrages. Zeit, die dringend gebraucht wird zur politischen Orientierung angesichts der Rechtsentwicklung in Politik und Gesellschaft, angesichts des fortschreitenden Übergangs des Nationalen ins Nationalistische, angesichts programmatischer Leerstellen mit Blick auf die rasanten, technologisch ermöglichten Umwälzungen in Produktion, Konsum und Lebensweise, die wiederum die soziale und kulturelle Fragmentierung der  Gesellschaft vorantreiben. Schließlich: Wie wird von links Gleichheit und soziale Gerechtigkeit politisch so gefüllt, dass das unveräußerliche Ziel universeller, globaler Gültigkeit erkennbar ist bzw. wird, was bedeutet das für eine sozial und ökologisch »nachhaltige« Wirtschaftsweise? Es ist ja dieses vielfältige »Unbehagen« vor den technologischen Folgen und den globalen Problemen und ihrer menschlichen Inkarnation als Hungernde, Leidende, Arbeitslose, Ausgebeutet und Entheimatete, welches die Erfolge neonationalistische Strategien zur Verteidigung des erreichten sozialen Wohlstandes antreibt und links weitgehend politische Ratlosigkeit und Erosion hinterlassen hat.

Die nächsten zwei Jahre »GroKo« sind erkaufte Zeit, um bei den nächsten Wahlen eine politische Kehrtwende zu erreichen. SPD, LINKE und auch Grüne werden diese Zeit je für sich zu nutzen haben. Von entscheidender Bedeutung wird indes sein, wie sich innerhalb der SPD und innerhalb der Linkspartei die innerparteilichen Debatten entlang der materiellen und kulturellen/mentalen/habituellen Probleme (ja, sprechen wir wieder von »Problemen« und nicht managerdeutsch von »Herausforderungen«) mit der Migration entwickeln werden. Denn hierbei geht es um die politische Fähigkeit, zwischen den gegenwärtig auseinander strebenden Angehörigen unterschiedlicher sozialer Lebenslagen und politischer Milieus gesellschaftspolitische Brücken zu erneuern.

Ob es was werden kann mit »Erneuerung« und politischer Wende, dass wird sich spätestens im Mai 2019 erweisen, wenn wieder Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Von links wären hierzu Vorschläge für den föderativen Umbau der EU zu erwarten, die das undemokratische Geklüngel der nationalen Regierungschefs durchbrechen. Einiges, etwa zur größeren Rolle von Städten und Regionen, liegt da auch von der linken Seite auf dem Tisch. Bei den letzten Europawahlen führten Sozialdemokraten und Christdemokraten mit ihren europäischen Spitzenkandidaten Junkers und Schulz einen in Ansätzen europäischen Wahlkampf. Im Gegensatz dazu schaffte es die Europäische Linkspartei nicht, sich wieder wie 2009 auf eine gemeinsame Wahlplattform zu verständigen. Gelingt es 2019 wieder nicht, die national-nationalistische Perspektive auf Vor- und Nachteile »Europas« in einer europäischen Perspektive auf Arbeit, Löhne und Sozialstaat, in einer linken »europäischen Sammlungsbewegung«  aufzuheben – mit allen Folgerungen für die politische Auseinandersetzung im jeweiligen Lande -, dann fehlte der auch für eine Erneuerung der SPD notwendige »Zug nach links« (statt »Druck von links«), dann wäre die jetzt erkaufte Zeit wohl bereits vorfristig vertan.

 

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