Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 gelten in weiten Teilen der deutschen politischen Öffentlichkeit als europäische »Schicksalswahl«. Befürchtet wird ein starker Stimmenzuwachs für EU- und Euro-skeptische Parteien im rechten, nationalistischen Parteispektrum und, vor allem, eine neue Qualität in der politischen Fähigkeit dieser Parteien zur Fraktionsbildung im Europäischen Parlament, also zur politischen Formierung. Dagegen wird ein Bekenntnis zu »Europa« mobilisiert, doch dieser Mobilisierung fehlt weitgehend ein entscheidendes Moment: Was müsste sich (an der deutschen Politik) ändern, damit der mehrheitliche Wunsch nach engeren Kooperation in der EU Wirklichkeit werden kann?
Stattdessen wird vielfach eine Polarisierung behauptet, in der sich »Skeptiker« und »Befürworter«, im weiteren dann »Ängstliche« und »Zuversichtliche«, »Verlierer« und »Gewinner« gegenüberstehen, denen dann wieder politische Aspirationen zugewiesen werden: die einen wollen zurück in eine bessere Vergangenheit, die anderen wollen weiter die Welle des Erfolgs in eine bessere Zukunft reiten. Diese Erklärungen bestätigen vor allem eines: ein ökonomistisches Weltbild, in dem es nur um Gewinnen und Verlieren, um Konkurrenz statt Kooperation geht.
Empirische Studien (nicht nur) aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung sollen diese dichotomen Spaltungen als europaweit gültig und das Wahlverhalten leitend belegen. Tatsächlich gelingt das nicht. Vielmehr zeigt sich die Armut empirischer Sozialwissenschaft, die graduelle metrische Unterschiede in qualitative Polarisierungen verwandelt.
Der Blick auf die zugänglichen empirischen Daten offenbart oftmals größere Unterschiede zwischen den Befragten einzelner Länder als entlang der behaupteten Polarisierungen. Auch finden sich die Polarisierungen in den Anhängerschaften aller Parteien wieder und mehrheitlich nur mit graduellen Unterschieden. Nur in wenigen Ländern wie Frankreich ist eine große Übereinstimmung zwischen der Zuordnung zu einem Pol und der Parteiaffinität feststellbar.
Schließlich müssen die Studien selbst zugestehen, dass etwa die Skepsis gegenüber dem Zustand der EU oder der Lage im eigenen Land unterschiedliche politische Auswege kennt. Das Lager der »Besorgten« teilt sich selbst wieder in diejenigen, die mehr sozialen Schutz durch eine stärkere EU wollen, und diejenigen, die auf eine Stärkung des Nationalstaates setzen. Für politische Alternativen zur vorherrschenden Politik wäre dies womöglich der weitaus interessantere Befund.
Die Studien der Bertelsmann-Stiftung wie auch die Befundes des Eurobarometers legen vor allem nahe, sich für einfachen und dichotomischen Erklärungsmustern zu hüten. Tatsächlich lassen sich in der europäischen Vielfalt eher unterschiedliche Gruppen von Ländern ausmachen, in denen sich ein ähnlicher Blick auf die EU herausgebildet hat. Es verbietet sich daher auch deshalb, das Wahlverhalten in den europäischen Staaten bei der Wahl zum europäischen Parlament nach einem einheitlichen Muster erklären zu wollen.
Die Erklärungen aus dem Hause der Bertelsmann-Stiftung tragen den Charakter einer Gegenmobilisierung. Gegen die von Rechten mobilisierte Angst vor »Brüssel« wird die Angst um die liberal-demokratische Zukunft Europas gesetzt: »Europa« ist von außen bedroht durch Protektionismus und die amerikanische Außenpolitik, von innen durch »die Populisten«.
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