Bodo Ramelow schattet voraus. Seit dem in Thüringen eine Koalition aus DIE LINKE, SPD und Grünen 24 Jahre CDU-Ministerpräsidentenschaft beenden und mit Bodo Ramelow erstmals ein Linker zum Ministerpräsidenten gewählt werden könnte, fordern die geschichtspolitischen Stellungskriege zwischen den »Guten« und den »Bösen« neue Anstrengungen.
Zunächst war da die Frage: »Wie hältst du es mit dem Unrechtsstaat?« Der Begriff »Unrechtsstaat« führt in der politischen Debatte Deutschlands ein untotes Dasein. Er diente in den 1990er als Pauschalurteil über die DDR und stand jeder historischen Analyse im Weg. Wer hinterfragte, was denn damit bezeichnet sein solle, setzte sich dem Verdacht der Verharmlosung und Relativierung aus. »Unrechtsstaat« diente nicht nur zur Delegitimierung der DDR, sondern auch der Delegitimierung jeglicher Lebensentwürfe jenseits des aktiven Widerstandes. Ein »gelungenes Leben« ist in einem »Unrechtsstaat« per definitionem nicht möglich.
In der Erklärung von LINKE, SPD und Grünen zu Beginn ihrer Sondierungsgespräche wurde der Begriff »Unrechtsstaat« verwandt, aber versucht, ihn anders zu verstehen denn als den politischen Kampfbegriff der 90er Jahre. Auf das Problematische des Pauschalurteils »Unrechtsstaat« wies auf die ihm eigene Art Götz Aly in seinen Kolumnen in der »Berliner Zeitung« hin, wenn er daran erinnerte, dass dieser Staat die Prügelstrafe in der Schule bereits Anfang der fünfziger Jahre untersagte, der Rechtsstaat BRD zwei Dekaden länger brauchte, ähnlich bei der rechtlichen Gleichstellung von Frauen. Der Begriff »Unrechtsstaat« assoziiert die DDR zudem mit dem nationalsozialistischen Staat, was einer ungeheuerlichen Relativierung des staatlich geplanten und verordneten Massenmordens gleichkäme.
DIE LINKE tut sich schwer mit dem Begriff »Unrechtsstaat«, was vor allem gegenüber jenen, denen Unrecht zugefügt wurde, kaum erklärt werden kann. Aber: Wer sich tatsächlich mit seiner Geschichte als Nachfolgepartei auseinander setzen will, kann es sich mit dem Begriff »Unrechtsstaat« nicht so einfach machen. Die DDR, sagen hingegen viele in der Linken, war eine Diktatur und die »Diktatur des Proletariats« stand als Weg und Ziel in der Verfassung. Damit wird ein auf Marx zurückgehender Begriff der linken und kommunistischen Bewegung für die eigene historische Aufarbeitung in Anschlag gebracht: Die »Diktatur des Proletariats« als historischer Irrweg zur Errichtung einer besseren Gesellschaft, in der der Mensch kein geächtetes und geknechtetes Wesen mehr sei. Es liegt im Begriff der Diktatur, weder Demokratie noch Rechtsstaat zu sein. Der historische Blick reicht über die DDR hinaus zurück. Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte hat den Charakter eines Sonderweges, eines notwendigen Sonderweges. Er insistiert, dass im Angesicht der DDR Linke etwas mit sich selber auszumachen haben, nicht nur mit den „Siegern“. Hierfür bestand in den vergangenen Jahren durchaus Raum (und die Regale blieben nicht leer).
Damit ist es aber vorbei, wenn Staatsjubiläen mit möglichen politischen Richtungswechseln zusammenfallen. Thüringen bietet die Chance einer politischen Alternative zu Stagnation und Stillstand, zu derem drohenden Umschlag in eine rechtspopulistische Konjunktur und in einen Rechtskurs in der deutschen Politik. Dagegen wird schweres Geschütz aufgefahren. Die CDU-Mittelstandvereinigung in Thüringen demonstrierte dagegen ausgerechnet am 9.11., unter tätiger Beihilfe von AfD und Rechtsextremen. Die FAZ-Wirtschaftsredaktion belässt es vorerst mit Warnungen vor einer Rückkehr staatlicher Bevormundungspolitik. Die Argumente gegen Rot-Rot-Grün mag man nicht teilen, aber man darf für sie auf die Straße gehen. Politische Richtungswechsel müssen Gegenwind standhalten.
Aus der Rolle hingegen fallen die obersten Repräsentanten der Berliner Republik. Zunächst der Bundespräsident, unser oberster Freiheitskämpfer und -mahner. Mit seinem prominent geäußerten Verdacht, in der Partei DIE LINKE könne doch noch mehr »Unrechtsnähe« stecken als koalitionsbereite Sozialdemokraten oder Grüne glauben würden, griff er, entgegen der üblichen parteipolitischen Zurückhaltung, direkt in die Tagespolitik, in den Mitgliederentscheid der Thüringer SPD, ein und fiel „aus der Rolle“, wie Heribert Prantl anmerkte. Ein – ungeschriebene – Regel des politischen Betriebs war nachdrücklich gebrochen.
Hinter dieser Kampfeslust wollte der Präsident des Bundestages offenbar nicht zurückstehen. Die vier Bundestagsfraktionen vereinbarten für den 7.11. zum 25. Jahrestag des Mauerfalls eine Debatte. Eine »vereinbarte Debatte« ist ein Tagesordnungspunkt des Parlaments, der in der Gestaltungshoheit der Fraktionen liegt. Gastrednerinnen wurden nicht geladen, als Rahmenprogramm wurde ein Film-Einspieler vereinbart. Da schritt Norbert Lammert ein und tat so, als sei die »vereinbarte Debatte« eine von ihm gestaltete Gedenkstunde, zu der er einladen kann, wen er sich aussucht. Für die Regelverletzung spielt es keine Rolle, wen er sich zwecks Gedenken zum Reden oder Singen einlädt. Dass er sich für eine Gesangseinlage von Wolf Biermann entschied, machte aber klar, dass es ihm von Anfang an um eine weitere Regelverletzung ging, denn für Biermann gehört das Reden zum Singen wie das Salz zur Kartoffel. So kam es, dass Lammert durch Biermann der Linken sagen ließ, was er von ihr hält. Künstlerische Freiheit halt. Nicht die Äußerung Biermann’s ist das Problem, sondern die Umstände, unter denen er von Lammert in den Bundestag geholt wurde – unter Bruch ungeschriebener Regeln des politischen Betriebs zwischen den Fraktionen und dem Präsidium.
Lammert wie Gauck sind politisch denkende und handelnde Menschen. Sie wissen, wann sie einen Bruch ungeschriebener Regeln unter vielseitigem Beifall begehen können. Und man darf davon ausgehen, dass sie im Ziel einig sind: ein politisches Debattenklima aufzubauen, in dem sich etwaige Enthalter aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken bei einem etwaigen Wahlgang für einen Ministerpräsidenten Ramelow als Freiheitskämpfer geehrt fühlen dürfen. (unter Beihilfe von HK, ESK)