Merzens erste Regierungserklärung und was linke Oppositionspolitik unterscheiden könnte

Die erste Regierungsklärung des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz überraschte mit versöhnlichen Tönen zur Kanzlerschaft von Olaf Scholz und dann mit ihrem weitgehend nüchternen Tonfall. Eine Konservative Revolution wurde nicht ausgerufen und die irreguläre Migration, bekanntlich rechts der politischen Mitte gern als Mutter aller Probleme kommuniziert, kam eher weiter hinten, unter Anderem vor. Dafür viel Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik, Wirtschaft und Staatsumbau. Und weit vorne der Bogen zu Ludwig Erhard und zum CDU-Gründungsmythos: Wirtschaftswunder und »Wohlstand für Alle«:

»Wir wollen regieren, um unser Land aus eigener Kraft heraus voranzubringen. Wir wollen regieren, um neue Sicherheit zu geben und vor allem um unsere Freiheit entschlossen gegen ihre Feinde zu verteidigen. Wir wollen regieren, um das Versprechen vom Wohlstand für alle zu erneuern. Und wir wollen regieren, um Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stiften, vor allem da, wo er uns verloren gegangen ist.«

Die erste Regierungserklärung einer neuen Legislaturperiode und Kanzlerschaft bietet der Opposition Gelegenheit, ihre strategische Position gegenüber der Regierung ins öffentliche Schaufenster zu stellen und zu erläutern. Wo liegen die Unterschiede, was sind die großen Linien und Themen, entlang denen für oppositionelle Mehrheiten geworben werden soll? Frage also: Was hatte nun die linke Opposition dem Kanzler entgegenzuhalten?

Reicht eine Liste von Leerstellen für eine linke Oppositionsstrategie?

Sören Pellmann, der Vorsitzende der Linksfraktion, beklagte die »fehlende Repräsentanz von Ostdeutschen in Politik und Verwaltung, und das ist nur die Spitze des Eisberges. Aber was ist denn mit den 50 sehr konkreten Forderungen der Ministerpräsidentin und der Ministerpräsidenten aus dem Osten? Klar: nicht berücksichtigt, stattdessen Symbolpolitik«. (Nebenbei: Es wird spannend zu beobachten sein, wie die Partei »die Ostdeutschen« in ihrem neuen Selbstverständnis als »organisierende Klassenpartei« unterbringt…) Und selbstverständlich fehlte auch nicht das zweite Herzensanliegen: »Wir brauchen Friedenspolitik, keinen Aufrüstungswahnsinn.« Wer würde das nicht unterschreiben – so lange einem das Kleingedruckte wie in der Rede geschehen vorenthalten wird.
Heidi Reichinnek, ebenfalls Vorsitzende der Linksfraktion, konzentrierte sich dann auf eine Mängelliste in Sachen sozialer Gerechtigkeit: das Schicksal von Migrantinnen und Migranten, Mieterhöhungen und Mietwucher und Einkommensarmut, Kinderarmut, der Alltag Alleinerziehender, Gewalt gegen Frauen. Ostdeutschland, Frieden, soziale Gerechtigkeit, die selbsterklärten Markenkerne der Partei aufgefädelt an vielen vor allem verteilungspolitischen Themen.

Merz als Wiedergänger von Adenauer-Erhard?

Der gesellschaftspolitische Fehdehandschuh, den Friedrich Merz in moderatem Ton, aber deutlich zu erkennen, in die Arena des demokratischen Kampfes um die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung progressiver Politik vor die Füße geworfen hat, der blieb – links liegen.
Wenn Merz herausstellt, dass er – wie unsereiner übrigens auch – einer Generation angehört, »für die es eigentlich immer nur vorwärts- und aufwärtsging«:

»’Wohlstand für Alle‘ – unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft hat dieses großartige Versprechen von Ludwig Erhard für viele eingelöst, erst im Westen und inzwischen zum Glück auch für viele im Osten unseres Landes. Doch viele Menschen in Deutschland, gerade auch viele jüngere, zweifeln mittlerweile daran, ob dieses Versprechen noch gilt und ob wir es überhaupt noch einlösen können. Diese Zweifel nehmen meine Generation, diese Zweifel nehmen uns alle und die neue Bundesregierung in die Pflicht, zu handeln.«

Ja, in der Tat, die Jüngeren und nicht nur sie schauen mit Skepis in die Zukunft und wären froh, wenn sie das Gefühl hätten, es bliebe halbwegs bei dem gegenwärtigen Wohlstandsniveau, obwohl man eher eine Verschlechterung erwartet: eine sich verändernde internationale Macht- und Wirtschaftsordnung, die Rückkehr von imperialen Landnahmen auch mit kriegerischen Mitteln, die sich dramatisch verändernden bio-physikalischen Existenzbedingungen auf dem Planeten Erde, ein deutsches Konsumniveau, für das, würde man es global verallgemeinern, drei Erden bräuchte…

Eine vorenthaltene Antwort

Der in den fünfziger Jahren in West wie Ost eingeschlagenen wirtschaftliche Entwicklungspfad: fossiler Industrialismus und hemmungslose Naturausbeutung, den ihre Partei, Herr Merz, als Wohlstand für Alle ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat, dieser Pfad hat uns in eine produktivistische Sackgasse geführt, in Deutschland, im alt-industriellen Norden und global. Er hat den Wohlstand nicht sicher gemacht, sondern für kommende Generationen mehr als fraglich, unsicher eben.
Keine Frage, es lässt sich heute, gerade auch als Arbeiter und Arbeiterin, materiell besser leben als vor 70 Jahren: die Konsummöglichkeiten sind gewachsen, die Wohnungen sind größer, ihre Ausstattung besser, die Arbeitszeit ist gesunken, die Gesundheitsversorgung besser und die Lebenserwartung höher; soziale Aufstiegsmöglichkeiten sind trotz Bildungsmisere immer noch vorhanden. Für viele erscheint der Wohlstand noch gesichert.
Die Gleichsetzung von Wohlstand und Reichtum mit Wirtschaftswachstum, mit ausuferndem Konsumismus, mit immer weiter sich auftürmender Warenmenge an Gütern und Diensten, mit stetig steigendem Ressourcenverbrauch führt nicht nur zu instabilen Klimabedingungen, zur Erdaufheizung und zum Verlust an Biodiversität. Wir verlieren damit auch eine Quelle dieses Reichstums, die Produktivkraft Natur: Denken Sie nur an die auch im Sauerland kostenlos verfügbare Arbeit der Bienen in der heimischen Honigproduktion…
Wir verlieren daher auch die Vorstellung, dass unsere Lebensweise verallgemeinerbar, also universell möglich wäre. Die Erdwissenschaften haben uns vorgerechnet, was das für die Bewohnbarkeit und die Ressourcen der Erde bedeuten würde. Wenn denn nicht mehr alle so leben können wie wir, wenn unsere Konsum- und Lebensweise aber als die mit dem größten Wohlstand gilt und daher die für alle erstrebenswerteste von allen Lebensweisen ist, dann haben wir damit zu rechnen, dass trotz aller Hürden Menschen kommen und bei uns auch ihr Glück machen wollen. Weil es aber bei dieser Lebensweise nicht für alle reichen wird, breitet sich eine Verteidigungshaltung aus. Wir schotten ab, weisen zurück, begeben uns in Abwehrstellungen, verschanzen, was wir haben; zunächst gegen die da draußen, und dann auch gegen die, die innerhalb unser Gesellschaft nicht mithalten können, danach gegen die, die sozial in »unsere Position« aufsteigen wollen, ein besseres Leben erstreben. Autos wie Panzer, Überwachungstechnologien an den Haus- und Zaunecken, Security-Firmen als Wachstumsbranche – und soziale Exklusion, alltägliche Pflege der sozialen und kulturellen Status-Unterschiede. Es ensteht eine überaus reiche Gesellschaft, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, die menschlich zu verwahrlosen droht. Dagegen hilft keine nationale »Kraftanstrengung«, wie Sie sie erwarten, dagegen helfen nur neue Weichenstellungen in unserem Verständnis von Wohlstand.

Erste Grundsatzfrage: Was ist eigentlich gesicherter Wohlstand?

Herr Bundeskanzler, Sie wollen offenbar bruchlos an das rücksichtslose Modell der frühen Bundesrepublik anknüpfen:

»Wir können aus eigener Kraft heraus wieder zu einer Wachstumslokomotive werden, auf die die Welt mit Bewunderung schaut. Wir werden deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, Wettbewerbsfähigkeit zum Maßstab unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik machen.«

Wettbewerbsfähigkeit färbt in Ihrer Welt schön, worum es in einer kapitalistischen Wirtschaft am Ende ja immer geht: die attraktive Profitrate. Wir sagen offen heraus: die Profitrate ist nicht unser Maßstab. Steigende Profitraten bringen eben nicht den Wohlstand für alle. Bereits Erhard und Adenauer wussten, dass dafür kräftig umverteilt werden muss: die Einkommenssteuer war höher, der Sozialstaat wurde ausgebaut, nicht abgebaut. Wir sagen der Koalition den Kampf um den Weg in eine bessere Zukunft an. Denn was ist gesicherter Wohlstand für alle? Wir sagen: eine gute und gleich zugängliche Gesundheitsversorgung für alle, gleicher Zugang zu Information und Bildung, zu Wasser, Energie, Wohnen ohne Angst vor Kündigung und Mieterhöhungen, demokratische Teilhabe. Wohlstand für alle – dafür braucht es Gleichheit im Zugang zu den basics eines guten Lebens. Diese Grundlagen einer guten Gesellschaft müssen als Gemeingüter für alle zur Verfügung stehen, nicht in privater Hand und unter Kontrolle des Profitprinzips. Mit anderen Worten: öffentlicher Wohlstand ist die Grundlage für gesicherten privaten Wohlstand. Als Maßstab einer guten Wirtschafts- und Investitionspolitik zählt daher der Ausbau der Allgemeingüter bei sinkendem Ressourcenverbrauch auf erneuerbarer Rohstoffbasis. Zu glauben, Wohlstand für zukünftige Generationen einfach durch höhere Wachstumsraten und steigenden Ressourcenverbrauch erhalten und ausbauen zu können, ist altes Denken, dass uns in die CO2-Falle geführt hat. Wohlstand für alle in einer friedlichen Welt erfordert eine neue Qualität von Sparsamkeit im Umgang mit den Ressourcen der Erde, die für alle reichen müssen. Also: Was wollen wir in unserer Gesellschaft unter gesichertem Wohlstand verstehen und was sind wir bereit, dafür zu tun?

Zweite Grundsatzfrage: Wird die Welt friedlicher bei anhaltender Ungerechtigkeit?

Und damit kommen wir zum zweiten Punkt, an dem wir uns die nächsten vier Jahre gegenüberstehen werden: Gerechtigkeit ist nur universell zu haben oder sie bleibt folgenloses Sonntags-Geschwätz. Sie sagen:

»Immer mehr Regulierung, erdrückende Bürokratie, marode Infrastruktur, eine teure Energieversorgung und vergleichsweise hohe Steuern und Abgaben, das hemmt seit Jahren das Potenzial, das in unserer Wirtschaft steckt.«

Ja, es geht uns auch um die damit angekündigte Umverteilungspolitik von den Löhnen und sozialstaatlichen Transfers zu den Gewinnen; und ja, die Infrastruktur ist sanierungsbedürftig, da haben die Vorgängerregierungen unter Unionsführung große Versäumnisse auf sich geladen. Aber hier geht es noch um mehr: Wenn Sie »Regulierung« und »erdrückende Bürokratie« beklagen, dann meinen sie damit ja auch eine Reihe von Nachweis- und Dokumentationspflichten, dann meinen sie damit ja die Einhaltung von Umweltstandards, von Entsorgungsvorschriften, von sozialen und ökologischen Standards in den Lieferketten. Es darf uns nicht gleichgültig sein, welche Verwüstungen beim Abbau der für die Wachstumslokomotive benötigten Rohstoffe der Erde angerichtet werden; es darf uns nicht nur ein Achselzucken wert sein, unter welchen Bedingungen unsere Hosen, Shirts und Schuhe hergestellt werden; und wir sind keine guten Nachbarn, wenn wir unseren Abfall (Plastik, Elektronik, Giftstoffe…) anderen vor die Haustür stellen, externalisieren wie unsere schmutzigen Fabriken, damit hier die CO2-Bilanz stimmt. Die Art, wie wir in und mit der Welt wirtschaften, sagt alles über unser Verhältnis zur Erde und zu unseren Mitmenschen. Wenn wir Raubbau und Überausbeutung in unser Wachstum und unseren Wohlstand einfach einpreisen, dann schaffen wir keinen gerechten Wohlstand, sondern tragen unseren Teil dazu bei, Unfrieden in der Welt zu stiften.

Es geht dann auch schon ums Ganze

Herr Bundeskanzler, sie wissen so gut wie wir alle um den Zustand des Planeten, dass die Zeit drängt, um die Erderwärmung einzudämmen, die Artenvielfalt zu erhalten, sprich: um die Bewohnbarkeit möglichst vieler Ecken dieser Erde zu bewahren. Was sie mit ihrer Regierung vorhaben, dass ist nicht nur ein Weiter so auf alten Pfaden. Sie befeuern auch noch den Irrglauben, dass es wieder so werden könnte wie früher. Für gesicherten Wohlstand muss vieles gründlich anders werden. Globale Gerechtigkeit ist dafür unverzichtbar. Sie erfordert ein anderes Verständnis der Ziele, denen Wirtschaft nützlich sein soll. Um diese Ziele werden wir im Grundsatz und im Detail vier Jahre lang mit Ihnen streiten.

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